Gestern war mein Leben mit Regen gefüllt

Zwei Rollstuhlfahrer auf dem Weg von Belgien nach Finnland: Der Film „Aaltra“ von und mit Benoît Delépine und Gustave Kevern verschweißt gekonnt Roadmovie, bitterböse Komödie, Dokumentarismus und Stummfilmgroteske

Ein Roadmovie mit Handantrieb: Diese Invaliden suchen sichihren Weg alleinund kommen überall durch

Wenn einem schon das Wasser bis zur Halskrause steht, sollte man wenigstens die Aussicht genießen. Die beiden Männer in Rollstühlen am Strand, den die Flut längst erobert hat, haben ohnehin keine andere Wahl, als die Sache auszusitzen. Auf ihrer Reise haben sie schon zu viele widrige Situationen überstanden, als dass sie das noch entmutigen könnte.

Wenigstens ist eine Flasche Schnaps bei der Aktion herausgesprungen, und eine angemessene Wegzehrung ist schließlich unerlässlich für die lange Strecke von Belgien bis nach Finnland, die sie trampend und ohne einen Cent in der Tasche zurücklegen. Am Ende wartet immerhin, so hoffen die beiden, eine satte Entschädigung. Ganz unschuldig sind sie an ihrer Lage keineswegs: ehemals leidenschaftlich verfeindete Nachbarn, gerieten sie bei einer Prügelei unter einen umfallenden Traktoranhänger. Jetzt sind sie auf dem Weg nach Norden, um den Hersteller der fatalen Agrarmaschine bis auf den letzten Hemdknopf zu verklagen.

Benoît Delépine und Gustave Kevern, die Autoren, Regisseure und Hauptdarsteller, sind seit Jahren für ihre Auftritte als TV-Komiker berühmt. In ihrem Kinodebüt stellen sie die Regeln der Stand-up-Comedy auf den Kopf: stumme Situationskomik statt schlagfertigem Wortwitz, Hinsetzen statt Aufstehen. Die Reise der beiden Protagonisten inszenieren sie als eine Abfolge absurder Stationen: als hätten zwei Beckett-Figuren sich doch noch aufgemacht und wären unterwegs in einen Buster-Keaton-Film geraten. Unbeweglich an ihr fahrendes Mobiliar geklammert, erbärmlich und heroisch zugleich, tuckern sie ihrem Schicksal entgegen.

„Aaltra“ ist ein Roadmovie mit Handantrieb in desolater Landschaft: kein Freiheitsversprechen links und rechts des Straßenrandes, stattdessen holprige Feldwege und verlassene Landstraßen. Und doch sind der bärbeißige Delépine und der mürrische Kevern die eigentlichen Helden des Motocross. Sie suchen sich ihren Weg allein und kommen überall durch, selbst wenn sie mit Zähnen und Klauen ihre Schneisen schlagen müssen. Kein Abfinden mit dem Gegebenen, niemals aufgeben. Dabei liegt dieser bitterbösen Komödie nichts ferner, als durch Mitleid mit zwei Invaliden zu rühren. Dieses infernale Duo erfährt keine Gnade und gewährt sie ebenso wenig. Sie sind Vagabunden, die unbeeindruckt ihr Schicksal erleiden und nachtreten, sobald man ihnen den Rücken zukehrt. Schonungslos terrorisieren sie ihre Umwelt, egal, ob ihnen von dort verkrampfte Nächstenliebe oder blanker Hass entgegenschlägt. In einem Gastauftritt hält Noël Godin, berühmt für seine Sahnetortenattacken auf scheinheilige Prominente, eine Lobrede auf Albert Libertad, den legendären Krüppel der anarchistischen Bewegung Frankreichs. Der zertrümmerte seinen Gegnern mit seinen Krücken die Knie, ihm ist der Film gewidmet.

Die Inszenierung verschweißt lakonischen Dokumentarismus und Stummfilmgroteske und vereint damit sozusagen das Beste aus zwei Welten: ein Laiendarsteller-Realismus à la Bruno Dumont oder Brüder Dardenne mit einigen improvisierten, mit versteckter Kamera gefilmten Szenen, gepaart mit der Retro-Coolness und dem stilisierten Schwarzweiß der Kaurismäki-Filme. Insofern ist „Aaltra“ auch eine Bewegung von einem Filmland in ein anderes, von einer Wetterlage in eine andere. In Belgien war die Hitze unerträglich, in Finnland regnet es ohne Unterlass, aber dafür ist dort jeden Tag Sonntag und ein backenbärtiger Rockabilly singt in einer verrauchten Kneipe eine seltsam zärtlich gehauchte Version des Bobby-Hebb-Evergreens „Sunny“: „Yesterday my life was filled with rain“. Gestern war mein Leben mit Regen gefüllt, heute schüttet es immer noch, aber wenigstens teilt sich Kaurismäki einen Drink mit mir.

DIETMAR KAMMERER

„Aaltra“. Regie: Benoît Delépine, Gustave Kevern. Mit Benoît Delépine, Gustave Kevern, Aki Kaurismäki u. a. Frankreich/ Belgien 2004, 92 Min.