: Das masochistische Gewächs
AUS HEYTHUYSEN MARKUS VÖLKER
Die Reisegesellschaft ist am Ziel. Der WM-Rasen liegt vor ihnen. Darauf haben die Mitglieder der Deutschen Rasengesellschaft den ganzen Tag gewartet. In Holland, bei der Firma Hendriks Graszoden, können sie das Grün endlich begutachten. Sie stürmen auf die Biomasse zu, die auf nacktem Beton liegt. Doch so einfach ist das nicht mit dem Fußballgrün. Der holländische Firmenchef John Hendriks hat noch drei weitere Bahnen auslegen lassen. Die Deutschen sollen raten, wo der WM-Rasen sprießt. Die Experten fühlen sich herausgefordert. Der eine Rasen ist tiefgrün und saftig. Der andere struppig. Der dritte hell und flauschig. Der letzte scheint der perfekte Picknickrasen zu sein. Die Kenner patrouillieren um die Bahnen, betasten die Halme, streichen mit der flachen Hand übers Grün und treten vorsichtig auf die feuchten Teppiche.
Der Präsident der Rasengesellschaft prescht vor. „Das hier isser“, sagt Klaus Müller-Beck, ein kleiner Rasenprofessor, und zeigt auf das Picknickgrün. „Eindeutig, hier ist doch Wiesenrispe zu sehen und Weidelgras.“ Er hat Recht. Der Holländer nickt bestätigend. Der WM-Rasen! Nun trampelt die Gesellschaft ganz ungeniert auf der kostbaren Züchtung herum, nestelt an der Sode und fingert an der Narbe. Halme werden herausgerupft und näher betrachtet. Die Schändung des WM-Rasens ist nicht weiter schlimm. Der Holländer hat noch ein paar Hektar in Reserve. Auch der Darmstädter Grasproduzent Büchner verfügt über enorme Grünreserven. Beide beliefern die zwölf deutschen WM-Stadien. Nach dem Ende der Bundesligasaison, am 13. Mai, wird in allen Arenen neues Gras verlegt. Nur der echte WM-Rasen ist erlaubt.
Die Oberaufsicht beansprucht das „Rasenkompetenzteam“ des WM-Organisationskomitees. Das sind Engelbert Lehmacher, 55, und Rainer Ernst, 53. In Boulevardmedien wurden sie als „Rasenflüsterer“ bezeichnet. Die Landschaftsarchitekten aus Osnabrück und Frankfurt am Main finden das übertrieben, aber sie verstünden schon eine Menge vom Rasen und dem Drumherum, sagen sie. Rasen ist nicht gleich Rasen, das ist ihr Credo. Und WM-Rasen schon gar nicht. Über eine Milliarde Menschen sehen die Fußball-WM, eine Milliarde sehen den Rasen des Kompetenzteams. Auch Franz Beckenbauer, Deutschlands höchste Fußballautorität, fordert grünendes Grün. Mindestens so schön wie bei der Weltmeisterschaft in Japan und Südkorea soll es anzuschauen sein. Der Weltverband Fifa hat strenge Regeln für das Aussehen der deutschen Grasbühne formuliert; nur 28 Millimeter hoch darf der Halm sein und 90 Minuten vor Spielbeginn muss das Spielfeld noch einmal gewässert werden. Keine Frage, das Kompetenzteam steht unter Druck. „Es darf nix schief gehen“, sagt Lehmacher. „Wenn’s gut ist, redet kein Mensch drüber, wenn nicht, gibt’s einen Riesenaufschrei.“ Beide hätten das Rad nicht neu erfunden, sagen sie, aber „eine neue Verantwortlichkeit“ spürten sie schon.
Ernst blickt ein wenig besorgt auf den holländischen WM-Rasen. „Die Poa müsste noch ein bisschen kommen“, sagt er, „aber der Dünger schlägt ja erst an.“ Die Poa ist eine Rasenart, Poa pratensis, die Wiesenrispe. Sehr strapazier- und leidensfähig. Die Wiesenrispe hält viel aus, grätschende Fußballspieler und schwergewichtige Footballer. 75 Prozent Wiesenrispe stecken im WM-Rasen drin. Der Rest ist Deutsches Weidelgras. Die Fachleute sagen Lolium dazu, Lolium perenne. Das Weidelgras ist wichtig, weil die Poa im Winter zu einer „Wachstumsdepression“ (Lehmacher) neigt und dringend Unterstützung durch sprießendes Lolium braucht.
Lolium wächst schnell, gleicht die Unpässlichkeit der Poa aus und macht den WM-Rasen fernsehtauglich – durch ein sattes Grün. Im Kontrast mit dem weißen Ball gibt das tolle Bilder. Es verstand sich von selbst, dass nur hochwertige Samen verwendet wurden, „mit einem hohen Wertgutschlüssel“, wie Ernst erklärt. Das Saatgut wurde im November 2004 von Hermann Freudenstein, und dem Rasenprofessor Müller-Beck gemixt – unter Beisein des Bundessortenamts. Ausgesät wurde es vor gut 13 Monaten. Die Runde war sich schnell einig, keine Experimente zu unternehmen und die Mischung auf zwei Arten einzugrenzen. Sogar „das Powergras Rotschwingel“ hatte keine Chance, denn es hatte in der neuen Allianz Arena kläglich versagt.
Rasen ist ein masochistisches Gewächs. Als einzige Kulturpflanze lässt sie auf sich herumtrampeln, sich wöchentlich scheren, von Fußballern und ihren Stollenschuhen malträtieren – und gedeiht trotzdem prächtig. Aber nicht nur das: „Rasen liefert auch ein emotionales Moment“, begeistert sich Müller-Beck, „wir haben ihn ja alle mit großer Freude angefasst, nicht wahr. Rasen, das ist Gleiteffekt und frischer Duft.“ Müller-Beck kommt regelrecht ins Schwärmen. Er erklärt seine Liebe an den Rasen – und ächtet den Kunstrasen. Der sei „Sondermüll“, Teufelszeug der großen Teppichmultis. Müller-Beck doziert: „Es gibt hierzulande nun mal einen Winter, der dem Rasen zu schaffen macht, aber wenn man die natürliche Vegetationsperiode auch noch negieren will, dann wird Fußball bald nur noch in einem virtuellen Raum stattfinden.“
Damit das nicht passiert, wird immer mehr Naturrasen kultiviert. Rasen lässt sich anbauen wie Kartoffeln oder Blumenkohl. Sechzig Firmen sind in Deutschland spezialisiert auf Fertig- oder Rollrasen, wie der Spezialist sagt. Bis zu 2,50 Meter breite Hobel trennen „bei Schälreife“ die Sode ab, die dann aufgerollt wird zu einem kompakten Gebilde. Bis zu 560 Rollen müssen für ein Fußballstadion geerntet werden. Über 20 Lkw sind nötig zum Transport der Biomasse.
Die Ballen werden in den Arenen auf sandigen Boden entrollt – entsprechend der DIN 18305, Teil vier – und schließlich mit speziellen „Andrückmaschinen“ Kante an Kante gelegt. Die Bahnen sind so schwer, dass sofort auf ihnen gespielt werden kann. Das Grün muss nicht erst Wurzeln schlagen. „Da können sie gleich eine Elefantenherde drauf schicken“, sagt Müller-Beck. Oder ein Fußballteam. Das Wechseln des Stadionbelags kostet etwa 125.000 Euro, alles in allem. Hendriks Graszoten liefert Rasen bis nach Cardiff (Wales). Auf riesigen Flächen ist im niederländischen Heythuysen nur eines zu sehen – Rasen: Sportrasen, Golfrasen, Gebrauchsrasen aller Art. „Wir haben vor 30 Jahren nach der Zukunft gesucht und sie im Rasen gefunden“, sagt der Holländer. Er beliefert sieben WM-Stadien, Büchner fünf. Und die Greenkeeper der Fußballarenen erledigen den Rest: Sie vertikulieren, striegeln und bürsten, besanden und aerifizieren, beregnen und linieren.
Die Greenkeeper bekommen immer öfter Lieferung vom Feld, weil die Stadien zu dunkel sind. Der robusteste Rasen verkümmert in den neuen Arenen. Den Rasenmachern, die ihr Produkt „als Baustoff“ verkaufen, kann das nur recht sein. Auch die Fußball-WM kommt wie gerufen. „Das mit dem WM-Rasen ist eine sehr gute Marketingstrategie, plötzlich spricht alle Welt über Rasen“, sagt ein Fachmann aus Österreich. Der Ausdruck „Rasenkompetenzteam“ suggeriere außerdem höchste Fachkenntnis. Auch dies sei ein geschickter Schachzug gewesen, glaubt Wilfried Zehetbauer von der Firma Zehetbauer-Fertigrasen. Kritischer sieht es der Landschaftsarchitekt Kurt Seegmüller, der das Trainingsgelände von Mainz 05 geplant hat. „Das mit dem WM-Rasen ist doch alles Humbug“, sagt er. „Hier wird nur Symbolpolitik betrieben.“ Problematisch sei außerdem „das kommerzielle Kalkül dahinter“. Merkwürdig findet er auch die Flächenbegrünung auf Geheiß der Fifa: Selbst wenn der Rasen in den WM-Stadien noch tipptopp ist, muss er ausgetauscht werden. In Frankfurt wurde erst kürzlich neuer Rasen verlegt. Das frische Grün fliegt trotzdem raus. Die Fifa will überall nur Weidelgras und Wiesenrispe. Bezahlen müssen das die Stadionbetreiber. Sie haben Verträge mit der Fifa geschlossen.
„Vermögend werden die Rasenfirmen nicht“, sagt indes Engelbert Lehmacher und tritt mit seinem Fuß so lange auf einem Stück WM-Rasen herum, bis die Halme zu Brei geworden sind. In wenigen Sekunden hat er Poa und Lolium zu Spinat verarbeitet. „Zehn Minuten Cheerleader-Gehüpfe, und das sieht genauso aus“, sagt er und blickt ein wenig sorgenvoll. Nur das Rasenkompetenzteam darf in diesen Tagen das WM-Grün auf Beanspruchung testen. Denn nur sie und die Lieferanten wissen, wo das Original wächst. Man hält die Grünflächen geheim, selbst die Deutsche Rasengesellschaft darf nichts wissen, nicht mal Herr Müller-Beck. „Wir wollen keinen Rasentourismus“, erklärt Lehmacher. „Und man weiß ja auch nicht, ob nicht so ein Verrückter mit der Egge drübergurkt.“ Ernst bringt sogar Säureattentate ins Spiel. „Das hat es alles schon gegeben“, sagt er.
Das größte Attentat auf das Grün hat allerdings die Fifa verübt – als der Rasen für die Absage der WM-Gala im Berliner Olympiastadion verantwortlich gemacht wurde. „Das hat mich schon ein wenig geärgert“, sagt Ernst. „Vor allem, weil die Probleme seit Monaten bekannt gewesen sind.“ Doch ob sich die Fifa nun mit dem Gala-Gestalter André Heller überworfen habe oder andere Gründe ausschlaggebend für die Absage gewesen sind, das will Ernst heute nicht mehr erörtern. Die „grüne Zukunft“ sei jetzt wichtig. Und auch das Abschneiden der Deutschen auf Poa und Lolium. Doch da macht ihm sein Kollege Hermann Freudenstein vom Bundessortenamt aus Hannover wenig Mut. „Wenn ich die Deutschen spielen sehe, dann ist die Auflage nicht das entscheidende Moment.“