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Archiv-Artikel

Konservativer Extremist

AUSSTELLUNG Der Kunstraum Kreuzberg zeigt von Freitag an „In Search of Europe?“ und beleuchtet das Verhältnis des „Orients“ zum Westen. Eine Arbeit porträtiert Sayyid Qutb, einen Führer der Muslimbrüder in den 60ern

„In Search of Europe?“ im Kunstraum Kreuzberg

■ Die Ausstellung „In Search of Europe? Auf Augenhöhe in einer ungleichen Welt“ eröffnet am 1. November um 19 Uhr und wird dann bis zum 12. Januar 2014 zu sehen sein. Täglich von 12 bis 19 Uhr geöffnet, Mariannenplatz 2

■ Sechs Wissenschaftler des Zentrum Moderner Orient in Berlin haben mit sechs KünstlerInnen ein Programm erarbeitet, in dem man etwa der Frage nachgeht, inwiefern Europa heute noch ein Maßstab ist, an dem sich Menschen in anderen Teilen der Welt messen.

■ Neben Abdelkarim sind der mosambikanische Künstler „Gemuce“ zu sehen, dessen 15-teilige Ölgemäldeserie „Alignment of values“ die Mauer als zentrales Motiv hat. Die türkische Künstlerin Esra Ersen hingegen widmet sich Erinnerungslücken und weißen Flecken in der Geschichte Bulgariens – „When Thinking Some Play with the Mustache, Others Cross Arms“ heißt ihr Werk, das aus Fundstücken und Oral History besteht.

■ Thematisch geht es des Weiteren um das Afrikabild der Europäer, um (metaphorische und reale) Grenzüberschreitungen sowie um Immigration nach Frankreich beziehungsweise Paris.

■ Es gibt ein Rahmenprogramm aus Vorträgen, Debatten und Filmvorführungen. Infos: www.kunstraumkreuzberg.de und insearchofeurope.de (taz)

VON ROWAN EL SHIMI

Die Grafik „AK-47 Theory“ sieht aus wie ein Spitzenmuster, ein filigranes Ornament. Gut vorstellbar als Muster von Kacheln oder sakralen Bauten im Orient. Tatsächlich hat Mohamed Abdelkarim, ein junger ägyptischer Künstler, das Muster aus der Kalaschnikow AK 47 entwickelt, „the dominant weapon in the Middle East“, wie er auf seiner Website schreibt. Eine zweite Grafik zeigt wie mit Morphing-Effekt eines Zeichentricks die Verwandlung des Gewehrs in einen Menschen.

Mohamed Abdelkarim, 1983 in Minya in Ägypten geboren, ist Teilnehmer des Forschungs- und Kunstprojekts „Auf der Suche nach Europa“. Am 1. November eröffnet im Kunstraum Kreuzberg die gleichnamige Ausstellung. In seiner Kunst hat sich Abdelkarim oft mit Fragen rund um Zeit, Sozialverhalten und Lebensrhythmen befasst. Er schreibt, macht Videos, nutzt Fotografien und Performances. Zuletzt arbeitete er mit dem bildenden Künstler Ahmed Sabry in Kairo gemeinsam am Projekt „The Rihno Story“, für das Abdelkarim ein Buch schrieb und Sabry eine Reihe von comicähnlichen Bildern vorstellte, die ein einsames Rhinozeros als Superheld bewohnte.

Für die Ausstellung in Berlin hat sich Abdelkarim einem höchst heiklen Thema zugewandt: den Ikonen des politischen Islams in Ägypten. Teil seines Projekts „Comparison of Appearance“ ist ein Film, der die Reise eines islamistischen Führers nach Amerika in den 1940er Jahren dokumentiert. Man sieht Interviews mit Zeitzeugen, die diesem islamistischen Führer auf seinem Weg nach Amerika auf dem Schiff begegnet sind, in verschiedenen Häfen in Ägypten, Marokko, Portugal und Frankreich. Allerdings nennt niemand seinen Namen. Sie alle bezeichnen ihn als „Er“.

Das scheinbar dokumentarische Material ist fiktiv. Angelehnt hat Abdelkarim die Figur des Führers an ein historisches Vorbild, Sayyid Qutb, Gründer und führendes Mitglied der Muslimbruderschaft. Sayyid Qutb war ein Schriftsteller, Denker und Dichter, der in den 1960er Jahren wegen des Komplotts zur Ermordung des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel-Nasser hingerichtet wurde. Die Schriften Qutbs inspirieren die Muslimbrüder noch immer und sind für ihren Antiamerikanismus und die Verachtung der US-amerikanischen Gesellschaft bekannt, die von Materialismus, Gewalt und Sex besessen sei.

„1948 reiste er in die Vereinigten Staaten, mit dem Auftrag, das amerikanische Bildungswesen kennenzulernen, da er für das Bildungsministerium in Ägypten arbeitete“, erläutert Abdelkarim. „Bei seiner Rückkehr wurde er extremer, weil er die Gesellschaft, wie er sie dort kennengelernt hatte, nicht mochte, und brachte dieses Gedankengut in Ägypten in Umlauf.“

Es ist nicht allein der Extremismus, der Abdelkarim an Qutb interessiert. „Er ist kein einzigartiges Phänomen, er hat bestimmte Eigenschaften, die auch andere Charaktere der modernen Geschichte aufweisen: sozialkonservativ, jedoch revolutionär, aber mit einer Vision, in der es nicht um Freiheit, sondern um Konservatismus geht. Er ist nicht einzigartig, so isoliert er auch ist.“ Abdelkarim hat auch ein Tagebuch geschrieben, das mit der Geburt von Qutb im Jahre 1906 einsetzt. So versucht er von einer zweiten Seite die Ikone des extremistischen, islamistischen Führers und Denkers zu analysieren, indem er sich auf das alltägliche Leben und soziale Begegnungen bezieht.

Die Schriften Sayyid Qutbs sind für ihren Antiamerikanismus bekannt

Eingeladen, am Projekt „Auf der Suche nach Europa“ teilzunehmen, wurde Abdelkarim von Bettina Gräf. Sie gehört zum sechsköpfigen Forscherteam des Projekts, das unter anderem die Beziehung Europas zu Nachbarländern und ehemaligen Kolonien bearbeitet. Gräfs Forschungsarbeit befasst sich mit dem Aufstieg des politischen Islams und den ikonischen Persönlichkeiten, die dahinterstehen, insbesondere in den 1940er bis 1960er Jahren.

Angesichts der jüngsten Ereignisse in Ägypten, dem Aufstieg der politischen Islamisten an die Macht und deren Niedergang kurz danach, ist ihre Arbeit höchst aktuell. Sie bezieht sich zudem auf Verlage in den 1940ern, die ausschließlich islamistische Bücher veröffentlichten und dadurch zur Ausbreitung der Bewegung beitrugen.

„Die Zusammenarbeit mit Bettina fand in Form von Gesprächen statt, wie man sie bei einer Tasse Kaffee führt“, erläutert der Künstler. „Ich musste mich für ein Element, einen Teilaspekt entscheiden“, so Abdelkarim. „Ich habe mich für Sayyid Qutb entschieden“, fährt er fort. Denn viele Bestandteile von Gräfs Forschungsarbeit berühren auch das Leben von Qutb.

■ Die Autorin ist Teilnehmerin eines Fortbildungsprogramms des Goethe-Instituts für Kulturjournalisten aus arabischen Ländern