: Kollektiver Black-out am Reck
Die deutsche Männerriege belegt bei der Kunstturn-EM nur Platz 7, wähnt sich aber dennoch auf einem guten Weg
AUS VOLOS JÜRGEN ROOS
Andreas Hirsch rechnete und rechnete. Der Cheftrainer der deutschen Kunstturner verbiss sich förmlich ins Wettkampfprotokoll – während beim deutschen Abend in einer gemütlichen Hafenkneipe von Volos schon wieder gelacht und gescherzt wurde. Zum Lachen war dem ehrgeizigen Berliner trotz aller Rechenspiele nicht mehr zumute an diesem griechischen Abend. So viel er nämlich auch rechnete, seine Riege blieb auf dem siebten Platz des Teamfinals bei der Europameisterschaft hängen, was eine gehörige Enttäuschung war für Bundestrainer Hirsch und sein Gefolge.
Platz sieben nach Rang sechs in der Qualifikation, nach Platz sechs bei der Europa-Meisterschaft vor zwei Jahren. Es war die schlechteste Platzierung einer deutschen Riege, seit es diesen Wettbewerb gibt. Das sind die Fakten. Aber schnell entspann sich eine heftige Diskussion darüber, ob dieses Resultat ein großer, ein kleiner oder überhaupt ein Rückschlag für das deutsche Männerturnen sei. Schließlich sah sich sogar Rainer Brechtken, der Präsident des Deutschen Turnerbundes (DTB) genötigt, den Verantwortlichen den Rücken zu stärken. „Dieses Team ist auf einem guten Weg in Richtung Peking, ich stehe weiterhin voll hinter seiner Leitung“, sagte Brechtken. Meistens ist es ja kein besonders gutes Zeichen, wenn Präsidenten solche Formulierungen gebrauchen.
Dass dieser siebte Platz so schwer einzuschätzen ist, daran war einzig ein Black-out am Reck schuld: Zuerst musste Robert Juckel (Cottbus) bei einem Allerweltsflugteil (Markelov) gleich zweimal vom Gerät, dann verfehlte auch noch Europameister Fabian Hambüchen (Wetzlar) beim Katchov die Stange – Teile, die die Athleten normalerweise im Schlaf beherrschen. Fast drei Punkte büßten die Deutschen damit ein. Mit diesen drei Punkten wären sie sogar in Medaillennähe gekommen, so stand der bittere siebte Platz auf dem Protokoll. Cheftrainer Hirsch mühte sich nach Kräften, die einzelnen Turner aus der Schusslinie zu nehmen. „Wir sind hier als Mannschaft angetreten, wir gewinnen und verlieren hier als Mannschaft“, sagte er. Allerdings räumte er auch ein, noch in der Halle laut geworden zu sein. „So verlassen wir die Halle jetzt nicht!“, hatte Hirsch seine Athleten angemeiert. Worauf die am Boden eine Trotzreaktion zeigten. Ein Beleg für Hirsch, dass sein Team funktioniert.
Hirsch hat die Punktzahlen richtig berechnet, theoretisch hätten die deutschen Turner Bronze gewinnen können. Ein Punkt stach in Volos freilich ins Auge: Wenn es darauf ankommt, haben die deutschen Turner ihre Nerven nicht im Griff – und greifen daneben. Europameister Hambüchen verpasste bereits in der Qualifikation die Titelverteidigung am Reck und stürzte am Boden.
Thomas Andergassen (Stuttgart) erreichte das Pauschenpferdfinale nicht, obwohl die Medaillenchancen in diesem Jahr so groß wie nie zuvor waren. Und jetzt zeigte auch noch das Team eine unerklärliche Nervenschwäche. „Es ist ein Konflikt entstanden zwischen Stabilität und Risikobereitschaft“, räumte Hirsch immerhin ein.
Ein weiteres Beispiel fehlender Balance lieferten der Cottbuser Robert Juckel am Seitpferd und Thomas Andergassen aus Stuttgart an den Ringen: Beide patzten und wurden in den Gerätefinals jeweils nur Achte. Wie es anders geht, demonstrierte nur Eugen Spiridonow aus Bous im Saarland: Der gebürtige Russe gewann am Sonntag vollkommen überraschend Silber am Seitpferd hinter dem Rumänen Flavius Koczi. Und Fabian Hambüchen wurde immerhin Fünfter im Sprung.
Bleibt trotzdem die Frage, ob das Resultat der Riege ein Rückschlag für das deutsche Männerturnen war oder nicht. Und da hätten die DTB-Verantwortlichen am emotionalen Abend vor den Gerätefinals genügend Argumente gehabt. Denn trotz des großen Nervenflatterns wurden immerhin fünf davon erreicht – so viel wie nie zuvor. Zudem hatten die deutschen Junioren am Vorabend des deutschen Absturzes am Reck etwas geschafft, was noch nie eine deutsche Nachwuchsriege erreicht hatte: In einem Herzschlagfinale flogen sie am letzten Gerät förmlich an den favorisierten Russen und Ukrainern vorbei und wurden Europameister – die Basis für die nächsten Jahre ist also da. Irgendwie passend war allerdings, dass dieses letzte Gerät bei den Junioren ausgerechnet das Reck war.