: Bei Luthers unterm Sofa
KULTURPROTESTANTISMUS Wie der Erfinder des schlechten Gewissens noch heute den Alltag beeinflusst – selbst den von Ungläubigen
■ ist taz-Kulturredakteurin, wuchs in einem interkonfessionellen Elternhaus auf und trat kürzlich aus der katholischen Kirche aus.
VON DORIS AKRAP
Sie haben keine Hausrats-, geschweige denn eine Lebensversicherung? Sie gehen nicht eher zum Zahnarzt, bis es richtig wehtut? Sie zählen nicht nach, wie viel Geld sich sparen ließe, wenn sie mit dem Rauchen aufhörten? Sie machen keine To-do-Listen? Sie kommen nicht auf die Idee, jemandem zu sagen: „Du schuldest mir noch einen Euro?“ Sie machen sich keine Sorgen um das Wohlergehen, sondern sorgen für Ihr leibliches und seelisches Wohl? Kurz und gut: Dann sind Sie katholisch. Um den Unterschied zwischen Katholiken und Protestanten zu verstehen, muss man dieser Tage nicht nach München fahren; für uns Kulturkatholiken ist jeder Tag ein ökumenischer Kirchentag.
Denn als Kulturkatholik ist man hierzulande in der Minderheit, erst recht in der Linken, die seit 1968 im Wesentlichen eine protestantische Veranstaltung ist. Nicht wenige interkonfessionelle Freundeskreise, Kollegien und Liebesbeziehungen müssen tagtäglich mit diesem culture clash zurechtkommen.
Die Ungläubigen unter den Protestanten weisen es barsch von sich, irgendetwas mit Religion zu tun zu haben. Doch hier geht es nicht um die Mitgliedschaft in einer der Kirchen, es geht nicht einmal um den Glauben. Die Rede ist nicht von einer Weltanschauung, die man sich zulegt, oder einer philosophischen Wahrheit, von der man überzeugt ist, sondern um kulturelle Prägungen, die man nicht einfach so ablegen kann – und die sich oft beständiger erweisen als so manche politische Überzeugung, die man im Laufe des Lebens erworben hat.
Auch Atheisten, Agnostiker und Kirchengegner haben ihre protestantischen bzw. katholischen Einflüsse. Und die kommen beispielsweise daher, wie zu Hause bei den Eltern gegessen und geredet, worüber gelacht und worum getrauert wurde, wie Gäste empfangen und wie Feste gefeiert wurden, kurz: ob es zu Hause katholisch oder protestantisch zuging.
Max Webers „Protestantische Ethik“ ist unter Linken keine Neuigkeit und wird, wenn es um den Kapitalismus und die deutsche Arbeitsmoral geht, oft zitiert. Aber dieser Einfluss zeigt sich auch in säkularen Zusammenhängen: Noch in der Demoparole „Bürger, lasst das Glotzen sein, kommt herunter, reiht euch ein“ klingt etwas von dem protestantischen Eifer nach, der, getrieben von eigenen Gewissensbissen, versucht, anderen ein schlechtes Gewissen einzureden.
„Jede Art Berufung ist bedeutsam und nötig, damit das Gewissen gewiss sei“, schrieb der Erfinder des schlechten Gewissens, Martin Luther. Doch was macht der, der weit und breit keine Berufung findet oder hört? Entweder er wird wahnsinnig, weil er einfach niemanden und nichts findet, der ihm bestätigt, dass er alles richtig macht und sein Leben einen Sinn hat. Oder er versucht, andere dafür verantwortlich zu machen, dass er keine Berufung hört. Oder er dreht darüber durch, dass er ständig irgendetwas tut, um bloß nicht in den Verdacht des Faulenzens zu kommen, und in der Annahme, dass es schon irgendjemandem nützen werde. „Von Arbeit stirbt kein Mensch, aber von Ledig- und Müßiggehen kommen die Leute um Leib und Leben; denn der Mensch ist zum Arbeiten geboren wie der Vogel zum Fliegen“, sagte der wie hier auch in vielen anderen Dingen irrende Martin Luther.
Zweifel und Selbstzweifel
Der Preis für die katholische Begegnung mit dem protestantischen Leben ist hoch: der Mangel an Selbstdisziplin und Selbstkontrolle, die Lust am Barock in Argumentations- und Lebensführung gerät schnell unter den Verdacht der Unzuverlässigkeit und Unernsthaftigkeit. Am Ende wird das Geständnis erzwungen, dass ein wenig protestantische Lebensart auf jeden Fall gesünder und vernünftiger ist. Argumentativ einwenden lässt sich dagegen nichts, außer dass das vernünftige Leben keinen Spaß macht: Vielleicht ist der Schaden später groß, aber warum sollte man sich jetzt unnötig Gedanken darüber machen?
Während der Protestant sich mit einem guten Glas Wein, einem guten Buch oder einem netten Abend in einem Tanzlokal für getane Arbeit „belohnt“, ist das ganze Leben des Katholiken unter die Vorzeichen des Hedonismus gestellt. Er „gönnt“ sich nichts, denn er hat ganz einfach die Freiheit, täglich ein Fest zu feiern, als ob es kein Morgen gäbe.
Denn es gibt für ihn auch kein Morgen. Das katholische Christentum gründet sich auf der Idee des Apostels Paulus, dass die Zukunft schon begonnen habe und die Welt damit ins Zeitalter der Gnade eingetreten sei. Paulus suspendierte das mosaische Gesetz: „Die Sünde soll nicht über euch herrschen, denn ihr steht nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade“ (Römer 6, 14). Es gibt keine Sünden mehr, alle sind schon durch den Tod des Gottessohns gesühnt – die theologische Rechtfertigung eines everything goes, die ihre Praxis in der institutionalisierten Beichte fand.
Des leidigen Wartens auf die Rückkehr des Erlösers müde, der durch Ablasshandel korrumpierten Autorität überdrüssig und um die verlotternde Gesellschaft besorgt, trat der Protestantismus an, die äußeren Instanzen radikal abzuschaffen. Tatsächlich aber verlegte er sie ins bestmögliche aller Verstecke: ins Innere des Menschen, ins Gewissen.
So weit, glaubt der aufgeklärte Geist, alles gut, der Mensch steht endlich im Zentrum allen Geschehens. Doch weit gefehlt: Gerade der Protestantismus ist vom Menschen unendlich weit entfernt. So richtig die Idee war, dem Einzelnen die Verantwortung für sein Handeln zu übertragen, so unmenschlich war es, ihn damit alleinzulassen. Zweifel und Hader an allem und jedem ist das Ergebnis, denn der Mensch ist nie mit sich allein und kann alleine nur verzweifeln.
Leicht fällt es den Verteidigern des Protestantismus gerade dieser Tage, auf Lernprozesse und eine gewisse Fortschrittlichkeit und Rationalität innerhalb der evangelischen Kirche zu verweisen. Sexualität, Frauenfeindlichkeit und Unfehlbarkeit des Papstes heißen die Stichwörter, und wer es gern historisch mag, bringt auch Dietrich Bonhoeffer gegen Papst Pius XII. ins Spiel.
Doch noch immer wird viel zu selten darauf hingewiesen, dass die NSDAP die größte Wählerschaft unter den Protestanten hatte und im Europa des 16. Jahrhundert etwa 20 Millionen Menschen starben, damit Luther seine Haushälterin heiraten konnte – ein Gründungsverbrechen, das die Protestanten heute kaum aufgearbeitet haben. Auch die große Herrschaftskritik der Protestanten ist nur die halbe Wahrheit. Denn noch im Prozess der Abwendung von der päpstlichen Autorität und der möglichen Entstehung eines unabhängigen Christentums verkaufte sich der Protestantismus an die Landesfürsten (weswegen es bis heute Landeskirchen gibt).
Die kulturellen Unterschiede zwischen den Konfessionen sind also viel grundlegender als die Streitfrage, ob beim Abendmahl der Körper Jesu wirklich oder nur symbolisch verspeist wird. Der Unterschied, um den es zwischen Protestantismus und Katholizismus geht, ist der der Unbedingtheit, anders ausgedrückt die Leidenschaft. Man hätte sie gern, beneidet und bewundert andere darum, doch es bleibt dabei: In Deutschland hat die Leidenschaft keine Heimat, weil sich die deutsche Nation durch die Reformation überhaupt erst konstituiert hat.
Leidenschaft ist, was der Protestant rational zu bekämpfen sucht. Der Zweifel, mit Descartes philosophisch in die Welt gekommen, ist des Protestanten Ding schlechthin. Dass der protestantische Zweifel – der im Wesentlichen nicht der an der Welt, sondern an sich selbst ist, an der eigenen Entscheidung, an der eigenen Position – auch zu Verzweiflungstaten führen kann, zeigt der Fall Margot Käßmann.
Man mag sich auf einem Ökumenischen Kirchentag zum Gespräch treffen. Aber sich eine gemeinsame Organisation zu wünschen ist nicht weit davon entfernt, von einem Frosch zu verlangen, dass er bellt wie ein Hund. Oder könnten Sie auf Anhieb ein protestantisches Pendant zu, sagen wir, Pier Paolo Pasolini finden, der unbedingt gläubig und unbedingt kommunistisch war (und wahrscheinlich von einem Katholiken umgebracht worden wurde)? Gut, der Katholizismus hat auch Hitler hervorgebracht, der unbedingt irre war.
Leidenschaft bedeutet, sich selbst zu vergessen, sich einer Sache mit voller Hingabe zu widmen, ohne vorher eine Kosten-Nutzen-Kalkulation zu erstellen. Freilich, mit Leidenschaft kann man eine Sache auch voll gegen die Wand fahren – oder Exzesse aller Art begehen. Aber wer immer erst abwägt, ob sich der Einsatz lohnt, wer niemals volles Risiko ohne Absicherung geht, der wird niemals wissen, was der Sinn des Lebens ist.
Die Dinge im Freistil angehen, ließ der amerikanisch-jüdische Schriftsteller Saul Bellow seinen Helden in „Die Abenteuer des Augie March“ sagen. Mit diesem Satz könnte ein moderner Katholizismus für sich werben, anstatt der Biederei des Protestantismus nachzueifern.