: „Kirchenleute sind wie Fußball-Fans“
NÄCHSTENLIEBE Wie ergeht es einem Menschen, der am Rande des Kirchentags um Almosen bettelt? Verdient er dank der Barmherzigkeit der Christen mehr als sonst? Oder sind die geiziger als andere?
55, lebt seit drei Jahren auf der Straße. Sein Stammplatz ist die Trittstufe eines Nebeneingangs der Heilig-Geist-Kirche am Viktualienmarkt in München.
INTERVIEW MARTIN KAUL
taz: Herr Reinhardt, Sie sitzen hier inmitten des größten christlichen Treffens der letzten Jahre und haben eine Spendenschale vor sich. Wie viel Geld haben Sie heute in die Kasse bekommen?
Walter Reinhardt: Sie sehen das ja selbst, es sind so um die 1,70 Euro.
Ist das mehr oder weniger als sonst?
Es ist zumindest nicht mehr als sonst. Ich kann das ganz gut vergleichen. Ich sitze ja jeden Tag hier, an dieser Stelle, an dieser Tür.
An Ihnen laufen doch heute tausende von Menschen vorbei. Müsste das christliche Laufpublikum nicht eigentlich spendabel sein?
Ich hab auch gedacht, dass vielleicht mehr reingeht als sonst, aber nix ist. Hier kommen heute mindestens zwanzigmal so viele Leute vorbei wie an normalen Tagen, ich kann ja die Füße gar nicht richtig ausstrecken bei diesem Auflauf. Aber eins kann ich sagen: Im Hinblick auf meine Kasse sind die Kirchenleute nicht anders als die Fans von 1860 München und Bayern. Wenn die hier unterwegs sind, kommt zumindest nicht weniger in die Kasse als heute.
Sie sagen, die christlichen Passanten sind geiziger als die Fußballfans?
Nein, das sage ich nicht. Ich bin auch nicht sauer darüber, wenn mir niemand was gibt, dazu ist ja keiner verpflichtet. Aber das Phänomen ist das gleiche. Die Leute passen auf, dass sie in der Masse nicht auf mich treten. Aber nur weil mehr Menschen an mir vorbeigehen, bedeutet das nicht mehr Geld. Es ist sogar das Gegenteil der Fall.
Wieso das denn?
Meine Stammkunden bleiben weg. Viele derjenigen, die mir regelmäßig helfen, kommen bei diesem Massenauflauf gar nicht in die Innenstadt. Das ist natürlich Geld, was mir fehlt.
Heute haben Sie nur 1,70 Euro in der Schale. Finden Sie nicht, dass das ein Grund ist, an der Nächstenliebe und dem christlichen Glauben zu zweifeln?
Och, ich habe meinen eigenen Glauben. Ich bin auch öfter mal in der Kirche, aber ich glaube nur, was ich sehe. Heute sehe ich viele Menschen – und ich sehe, das nicht mehr in der Kasse ist als sonst.