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Archiv-Artikel

Die Wiederentdeckung der Schnelligkeit

Der „Fliegende Schlesier“ fuhr einst in weniger als drei Stunden von Berlin nach Breslau. Um den 160. Geburtstag der Strecke zu feiern, sitzt die Stadtentwicklungssenatorin sechs Stunden lang im Zug. Viel Zeit für eine Diskussion über Beschleunigung

AUS BRESLAU UWE RADA

Das Staunen ist groß auf dem Breslauer Marktplatz. Dass es vielfältige Verbindungen der niederschlesischen Boomtown zu Berlin gibt, wissen die meisten. Schließlich wirkten Architekten wie Hans Poelzig, die in den 20er-Jahren Berlin ein modernes Gesicht gaben, auch in Breslau. Und Alfred Kerr, der nimmermüde Theaterkritiker, brachte schon um 1900 das Berliner Theaterleben dem Publikum seiner Breslauer Zeitung näher. Dass es aber einst eine Eisenbahnverbindung gab, den „Fliegenden Schlesier“, der die preußische Metropole und die Hauptstadt seiner reichsten Provinz in nur zweieinhalb Stunden miteinander verband, ist den meisten neu.

Zu lesen ist die Neuigkeit in einer Ausstellung, die Berlins Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer und Breslaus Stadtpräsident Rafał Dutkiewicz am Montagabend eingeweiht haben. Ihr Titel: „Berlin–Breslau. Verbindungen, Beziehungen, Perspektiven“. Seit gestern ist die Ausstellung auch im Berliner Ostbahnhof zu sehen.

Anlass für die Feierlichkeiten war der 160. Geburtstag der Eisenbahnverbindung. Schon 1842 wurde die erste Bahnstrecke von Berlin nach Frankfurt (Oder) in Betrieb genommen. Vier Jahre später schloss sich die Verbindung Frankfurt–Breslau via Guben und Sorau an. Ein bis heute in Berlin sichtbares Ergebnis dieser neuen Strecke war der spätere Bau des Schlesischen Bahnhofs – des heutigen Ostbahnhofs. Der hieß im Alltagsjargon der Berliner bald auch „polnischer Bahnhof“. Über Breslau kamen eben nicht nur Architekten und Theaterkritiker nach Berlin, sondern auch polnische Arbeitskräfte, die in der deutschen Hauptstadt ihr Auskommen suchten.

Groß ist das Staunen auf dem Breslauer Marktplatz aber auch deshalb, weil der Reisende heute nicht mehr zweieinhalb Stunden auf der Schiene unterwegs ist, sondern fast sechs. So lange braucht der Intercity „Wawel“ von Berlin Ostbahnhof nach Wrocław Główny, und so lange brauchte auch Ingeborg Junge-Reyer, als sie sich am Montagmorgen mit ihrer Delegation auf den Weg zur Ausstellungseröffnung in Breslau machte. Ihr Kommentar: „Eine so lange Fahrt, das ist eigentlich Luxus.“

Es war aber auch eine Entdeckung des Schnelligkeitspotenzials. Schließlich befand sich neben der Senatorin auch der Berliner IHK-Chef Eric Schweizer im Zug, der Projektleiter Polen der Deutschen Bahn, Markus Löw, und Wolfgang Koch, der zuständige Mitarbeiter von Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee. So geriet die Luxusfahrt alsbald zur informellen Runde über die Frage, ob eine Schnellverbindung zwischen beiden Städten nicht nur Vergangenheit, sondern auch Zukunft hat.

Im Vergleich zur Bahnverbindung nach Stettin, deren 160. Geburtstag bereits vor drei Jahren gefeiert wurde, hat die Breslauer Verbindung einen entscheidenden Vorteil. Die polnische Staatsbahn PKP steckt derzeit mitten im Ausbau der Trassen Breslau–Görlitz und Breslau–Horka. Hier können Züge künftig 160 beziehungsweise 120 Kilometern pro Stunde erreichen. Dies entspricht zwar weder der historischen noch der aktuellen Trassenführung, die über Cottbus, Forst, Żary und Żagań führt. Doch der kleine Umweg über Sachsen ist zu verkraften, da die Breslauer damit nicht nur schneller in Dresden sind, sondern auch schneller Berlin erreichen werden.

Voraussetzung dafür ist allerdings ein Lückenschluss zwischen Horka und Cottbus. Bislang wird die einspurige und nicht elektrifizierte Strecke allein von der Lausitzbahn befahren, mit einer Höchstgeschwindigkeit von 120 Stundenkilometern. Wäre die knapp 400 Kilometer lange Verbindung zwischen Breslau und Berlin durchgehend mit Tempo 160 befahrbar, würde der Rekord des „Fliegenden Schlesiers“ zwar immer noch nicht gebrochen. Aber knapp drei Stunden Fahrzeit wären immerhin drei weniger als die bisherigen sechs.

Für den IHK-Chef gibt es für den Streckenausbau zwischen Cottbus und Horka inzwischen auch ein gewichtiges Argument, den künftigen „Airport BerlinBrandenburg International“. „Der Flughafen Schönefeld wird auch ein Flughafen für die Breslauer werden“, ist Eric Schweizerer überzeugt. „Schon heute kommen zehn Prozent der Berliner Fluggäste aus Polen.“

Seit dem polnischen EU-Beitritt hätten 3.600 Firmen aus Polen ein Gewerbe in Berlin angemeldet, nicht als Fliesenleger, sondern bei der Industrie- und Handelskammer. Zudem hätten sich 1.000 Firmen aus Deutschland seither in Breslau niedergelassen, zählt der IHK-Chef auf: „Wenn das keine Nachfrage für eine schnelle Bahnverbindung zwischen beiden Städten ist.“

Berliner und Breslauer Argumente müssen aber noch lange nicht die Argumente des Bundesverkehrsministers oder des Bahnvorstands sein, gab der Polenchef der Deutschen Bahn, Markus Löw, zu bedenken. „Den Ball müssen alle zusammen ins Tor schießen“, sagte Löw, „sonst wird das nichts.“ Immerhin habe Berlin mit der Wirtschaftskonferenz zur „Oderregion“ Anfang April eine wichtige Vorarbeit geleistet.

Weniger optimistisch war allerdings Wolfgang Koch vom Bundesverkehrsministerium. „Eine solche Investition“, sagte Koch hartnäckig, „muss erst noch finanziert werden.“ Zwar stehe die Trasse von Cottbus nach Horka bereits im Bundesverkehrswegeplan. Umfang und Zeitpunkt des Ausbaus seien aber noch nicht festgelegt. Andere Trassen hätten Priorität. „Das kann dauern“, sagte Koch. Vor 2010 rechnet er deshalb nicht mit einem Baubeginn

Muss aber, meinen die meisten Beteiligten. Denn schon 2008 will die polnische Seite mit ihrem Trassenausbau fertig sein, drei Jahre später soll der erweiterte Flughafen Schönefeld an den Start gehen. Zusammen mit der IHK will Stadtentwicklungssenatorin Junge-Reyer deshalb eine Studie in Auftrag geben. Ziel ist es, die Wirtschaftlichkeit einer solchen Verbindung zu prüfen und dann auch als weiteres Argument an der Hand zu haben.

Die Breslauer, die auf dem Marktplatz die Ausstellung zur Geschichte der Berlin-Breslauer Eisenbahn anschauen, hätten gegen eine Neuerfindung des „Fliegenden Schlesiers“ nichts einzuwenden. Denn wie sagte schon ihr Stadtpräsident zur Eröffnung: „Berlin und Breslau, diese Verbindung wird immer wichtiger.“