Der Feind aller

SEERÄUBER Daniel Heller-Roazen legt eine Studie über die Herausforderungen vor, die der Pirat bis heute für Recht und Politik darstellt

Was sind Piraten – rechtlich betrachtet –, wenn sie weder als Kriminelle noch als Kriegführende agieren?

VON RUDOLF WALTHER

Die Wörter „Pirat“, „Seeräuber“, „Korsar“ und „Bukanier“ werden in der Regel synonym verwendet, obwohl sich Unterschiede herausarbeiten ließen. Alle vier Wörter sind mit einer Aura des Romantischen, Abenteuerlichen und Heroischen verbunden, die die Fantasie von Schriftstellern seit Jahrhunderten, jene von Filmemachern und Comic-Zeichnern in jüngster Zeit beflügelt haben. Der amerikanische Literaturwissenschaftler Daniel Heller-Roazen beschäftigt sich in seinem Buch mit Piraten nicht als ästhetischem Phänomen, sondern als Rechtsfigur. Mit umfassender Kenntnis der Rechtsquellen seit der Antike und mit subtilen Interpretationen gewinnt der Autor dem rechtsgeschichtlichen Thema aufregende Facetten ab.

Piraten agieren in einem Gebiet, in dem Ausnahmeregeln herrschen – zum Beispiel auf hoher See oder im Luftraum. Sie reißen durch ihre Taten einen Graben von absoluter Gegnerschaft auf, die keine rechtlichen Grenzen oder Verträge kennt, sondern nur Willkür. Drittens heben Piraten die Differenzen zwischen Strafrecht und Politik auf, insofern sie sich selbst nicht als bloße Straftäter verstehen und von ihren Gegnern auch nicht als gewöhnliche Kriminelle betrachtet werden. Viertens stellt sich die Frage, was Piraten – rechtlich betrachtet – sind, wenn sie weder als Kriminelle noch als Kriegführende agieren.

Der römische Staatsmann Cicero war einer der Ersten, der sich mit dieser Frage beschäftigte. Menschen, so Cicero, sind immer in moralische und rechtliche Verpflichtungen eingebunden, als Eltern, Erben, Hausväter, Bürger. Diese Verpflichtungen, die im „Corpus Iuris Civilis“ unter Kaiser Justinian systematisiert wurden, stiften unter den Menschen durch „Vernunft und Rede“ einen Zusammenhalt der „Gemeinschaft des Menschengeschlechts“.

Für Cicero bleibt eine Gruppe von Menschen aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen – die Piraten, weil sie keine Verträge, kein Recht und keine Eide kennen und denen gegenüber deshalb auch die Gemeinschaft des Menschengeschlechts keine rechtlichen und moralischen Pflichten haben kann. Piraten sind insofern der „gemeinsame Feind aller“. Im Lateinischen gibt es eine Unterscheidung, die allerdings nicht streng durchgehalten wird: auf der einen Seite der „öffentliche Feind“ („hostis“), mit dem man Krieg führen kann, und auf der anderen Seite der „private Feind“ („inimicus“), der ein nichtkriegswürdiger Bandit, Rebell oder Pirat ist.

Erster Schritt zur Diktatur

Wer nach welchen Kriterien zum „Feind aller“ wird, bleibt bei den antiken Autoren oft unklar. Ganze Völker wie die Illyrer galten zeitweise als „Seeräuber“ bzw. „Feinde nicht von einigen, sondern von allen insgemein“ – so der Geschichtsschreiber Polybios (200–120 v.Chr.). Das Römische Reich führte – entgegen der begrifflichen Unterscheidung – lange Zeit einen „allgemeinen Krieg“ gegen Piraten und zahlte – entgegen der Doktrin, mit treulosen Vertragsbrechern könne nicht paktiert werden – Lösegeld für den von Piraten gefangenen Caesar. Der Feldherr und Politiker Gnaeus Pompeius Magnus erhielt 67 v. Chr. sogar Sondervollmachten für die Bekämpfung der Piraten. Zum Teil wurden die besiegten Piraten in die römische Flotte integriert. Die Sondervollmachten für den Kampf gegen den „Feind aller“ war der erste Schritt von der Republik zur Diktatur und Monarchie und belegt damit eine bis heute bestehende Gefahr, wenn Einzelne oder Gruppen zu „Feinden aller“ und damit zu Rechtlosen erklärt werden, wie es zuletzt den in Guantánamo-Häftlingen geschehen ist.

Eine andere Perversion bilden die seit dem 13. Jahrhundert geläufigen Kaperbriefe. Mit diesen legitimierten Herrscher ihre Flotten oder angeheuerte Piraten zur Plünderung in Friedens- wie in Kriegszeiten. Die Kaperbriefe machten aus Unrecht Recht und waren nichts anderes als „legalisierte Piraterie“ (Janice Thomson). Diese wurde erst 1856 durch den Pariser Frieden illegal.

Dass die Rechtsfigur des „gemeinsamen Feindes aller“ an den Piraten entwickelt wurde, ist kein Zufall. Sie operieren auf dem Meer, und dieses gehörte nach dem römischen Naturrecht wie die Luft und die wilden Tiere allen. Mit der Fiktion von Schiffen als „schwimmenden Territorien“ mit „ambulanter Souveränität“ (Baron de Cussy 1856) schuf man eine imaginäre Brücke zwischen dem Besitzer und dem im prinzipiell herrenlosen Meer schwimmenden Schiff.

Das Eigentum aller

Die Aufklärung präzisierte die vage Vorstellung von der Gemeinschaft des Menschengeschlechts mit der Einführung des Begriffs „Menschheit“ ins Völkerrecht. Für Kant bildete die Menschheit „das Vermögen, sich überhaupt einen Zweck zu setzen“, das heißt zu handeln. Nicht nur die Person, sondern auch die Menschheit selbst wurde damit zum Träger von Rechten. Tyrannei konnte fortan als „Verbrechen gegen die Menschheit“ bezeichnet und verurteilt werden. Über die Haager Landkriegsordnung von 1899 und die Londoner Charta für die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse von 1945 ging der Grundsatz ins Völkerrecht ein. Eine Ironie der Geschichte: Der Begriff „Pirat“ markierte während Jahrhunderten den „gemeinsamen Feind aller“. Mit der Einführung des Begriffs „Menschheit“ ins Völkerrecht wurde nun jeder Verletzter von Menschlichkeit oder Menschenrechten zum „gemeinsamen Feind aller“.

Das ist kein Freibrief für Präventivkriege, wie Carl Schmitt meinte, oder für ideologische Gesinnungskriege wie der „Krieg gegen den Terrorismus“ von G. W. Bush. Für Heller-Roazen markiert der Begriff „Menschheit“ im Völkerrecht den Übergang zu einem „neuen Zeitalter“. Der Autor verdeutlicht, dass die Lage damit klarer, aber keineswegs einfacher geworden ist. Einem Staat, der Menschenrechte schwer verletzt, kann jetzt völkerrechtlich begründet mit Gewalt entgegengetreten werden. Da solche Verstöße permanent drohen, wird das Ziel einer rechtlichen Weltordnung zu einer tendenziell endlosen „Vorbereitung auf den Frieden durch Krieg“.

■ Daniel Heller-Roazen: „Der Feind aller. Der Pirat und das Recht“. Aus dem Englischen von Horst Brühmann. Verlag S. Fischer, Frankfurt/M. 2010, 348 S., 22,95 €