Wien, Wien, nur du allein

GROSSBÜRGERTUM Auf den Spuren seiner Großmutter taucht der australische Autor Tim Bonyhady in „Wohllebengasse“ in das Leben einer jüdischen Familie ein und zeichnet ein Bild des kulturellen Lebens in der Donaumetropole Anfang des 20. Jahrhunderts

VON JÜRGEN BERGER

Wie aufschlussreich Telefonbücher sein können, notierte Bruce Chatwin kurz nach seiner Ankunft in Buenos Aires in eines seiner Moleskine-Notizbücher. Er meinte unter anderem, dass man dort all die Namen jüdischer Familien findet, denen noch bis kurz vor dem Zweiten Weltkrieg die Flucht aus Deutschland und Österreich gelang. Man kann davon ausgehen, dass das auch für Sidney gilt. Gretl Herschmann-Gallia etwa, Tochter eines großbürgerlichen Wiener Hauhalts, emigrierte Ende 1938 gemeinsam mit ihrer Tochter Anne und Schwester Käthe nach Australien. Die Familie hatte in den Jahrzehnten zuvor ein beträchtliches Vermögen erarbeitet. Die Nazis konfiszierten aber nahezu das gesamte Bar- und Aktienvermögen.

Der wirtschaftliche Aufstieg der Familie ist eine Perspektive, unter der Tim Bonyhady seine zwischen Erzählung und Kulturreportage changierende Familiengeschichte erzählt. Bonyhady lebt in Canberra und ist Umweltanwalt, Kulturhistoriker und Direktor des Zentrums für Klimarecht und -politik an der nationalen Universität von Australien. In „Wohllebengasse“ geht es ihm vor allem um die Verflechtungen der eigenen Familienhistorie mit dem kulturellen Leben der Donaumetropole.

Liebhaber der Künste

Gretls Mutter, Hermine Gallia, war eine der eifrigsten Kunstsammlerinnen ihrer Zeit, der Vater Moritz ein Kaufmann und Liebhaber der schönen Künste. Sein Geld verdiente er als Direktor von „Auer-Licht“, dem zu seiner Zeit führenden Hersteller von Gasglühstrümpfen.

Dreh- und Angelpunkt von Bonyhadys Eintauchen ins Wiener Leben Anfang des 20. Jahrhunderts ist die Ballung künstlerischer Kreativität bis hin zum Ersten Weltkrieg. Klimt & Co. arbeiteten an der Erneuerung des Kunstbegriffs, parallel dazu komponierten Gustav Mahler und Arnold Schönberg, während Robert Musil, Arthur Schnitzler, Karl Kraus und Sigmund Freud sich in ihrer jeweils eigenen Schreibwelt bewegten. Die Gallias gehörten zu denen, die ihre Wohnsitze nach den Entwürfen der Wiener Werkstätte einrichteten und nach der Premiere von Frank Wedekinds „Frühlingserwachen“ heftig diskutierten, ob man das neu und aufregend oder empörend zügellos finden soll.

In diesem Abschnitt der Familienhistorie widmet Tim Bonyhady sich so detailliert den Beschreibungen großbürgerlicher Interieurs, dass man meint, er wolle eine Fin-de-Siècle-Ausstellung kuratieren. Der kleinteiligen Aufzählung entkommt er, sobald er sich auf die dramatischen Sollbruchstellen der Familiengeschichte einlässt. Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieg verliebt sich die schwärmerische Gretl in Norbert Stern, einen aus Sicht der Gallias mittellosen Architekten.

Das falsche Design

Sie ist 18, die beiden wollen heiraten, eine eigene Wohnung wird eingerichtet – aber nicht vom künftigen Schwiegersohn, sondern von Josef Hoffmann, dem stilprägenden Designer und Architekten der Wiener Moderne. Der ambitionierte Norbert ist so gekränkt, dass es zum Zerwürfnis kommt. Die Verlobung wird gelöst. Auch Gretls zweiter Versuch steht unter keinem guten Stern. Dieses Mal heiratet sie tatsächlich: Paul Herschmann, einen gläubigen Juden, der dem Katholizismus im Hause der konvertierten jüdischen Familie Gallia nur mit Spott begegnet.

Schon kurz nachdem Anne geboren ist, die Mutter des Buchautors, trennen sich die beiden, und Gretl zieht mit der Tochter wieder zurück in die Wohllebengasse. Inzwischen ist Gretl bei der gestrengen Mutter in Ungnade gefallen. Sie darf mit ihrer kleinen Tochter nur noch Räume in der unteren Etage nahe den Dienstboten beziehen. Vier Jahre später, im Februar 1936, stirbt die herrschsüchtige Patronin. Gretl und ihre Tochter erleben eine kurze Zeit des befreiten Eintauchens in das kulturelle Leben zwischen Burgtheater und Secession, dann gewinnen auch im roten Wien die Nazis die Oberhand.

Da ist Anne 13 und wächst immer noch in der Abgeschirmtheit eines großbürgerlichen Haushalts auf. Kurz nach dem „Anschluss“ Österreichs ist dann auch den Gallias klar, dass es um Leben oder Tod geht. Gretls Schwester Käthe wird inhaftiert und kommt erst frei, nachdem sie ein Dokument unterzeichnet hat, sie gebe ihr Vermögen freiwillig ab und verlasse Europa. Nach der Entlassung Käthes bereiten die Gallia-Schwestern die Emigration vor. Wer wissen will, wie schwierig es sich gestaltete, all die nötigen Aus- und Einreise-Dokumente zu bekommen, und wie die Schwestern mit falschen Expertisen den Wert der von ihnen ausgeführten Kunstgegenstände schmälerten, kann das in den letzten Kapiteln von „Wohllebengasse“ nachlesen.

Mit dem Porträt von Hermine Gallia, das der 1918 verstorbene Gustav Klimt gemalt hatte, gab es dagegen keine Schwierigkeiten. Klimts Kunst ist den Nazis zu dekadent, das Hoffmann-Interieur des Familiensitzes wird als Hausrat eingestuft. Am 4. Januar 1939 kommen die Gallia-Schwestern und Anne in Sidney an. Gretl wird Deutsch- und Französischlehrerin, Anne vermisst wie ihre Mutter das kulturelle Leben Wiens. Für Gretl gilt dieses „Wien, Wien, nur du allein“ bis in den Tod. Ihre letzte Ruhe findet sie im Familiengrab auf dem Hietzinger Friedhof.

■ Tim Bonyhady: „Wohllebengasse. Die Geschichte meiner Wiener Familie“. Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer. Zsolnay Verlag, Wien 2013, 448 S., 24,90 Euro