: Verflixt noch mal, Fahrradfahrer dieser Stadt
POP Das Tocotronic-Festjahr zum Zwanzigsten der Band geht mit einem gefeierten Heimsieg im Huxley’s dem Ende entgegen
„Alles muss kaputt sein“ ist auf einem Aufnäher zu lesen, der die Jacke eines jungen Menschen ziert. Der richtige Begrüßungsslogan, um ein Tocotronic-Konzert zu begehen. An der Kasse des Huxley’s drängen sich die Letzten, um hineinzukommen. Sie strömen hinein vom Baumarkt-Parkplatz. Die dort noch herumhängenden Leute werden vertrieben – die Feierabendeinkäufer wollen mit ihren Pkws durch.
Drinnen setzt Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow wenig später mit Whiskey-Stimme zum Titelstück des aktuellen Albums „Wie wir leben wollen“ an. Um dann im Refrain doch einige Oktaven höher zu landen: „Das ist keine Erzählung / das ist nur ein Protokoll / doch wir können davon lernen / wie wir leben wollen“. Die Songs des 2013er-Albums der Band aus Berlin und Hamburg prägen diesen Konzertabend am Mittwoch in der Location an der Hasenheide. Jede Menge theoretischer Widerstand in Dreiminütern ist zu hören, etwa: „Die Revolte ist in mir“, also in ihm, dem von Lowtzow. Vielleicht auch in den anderen oder gar in allen Anwesenden.
„Gottfroh“ sei die Band, an disem Abend im Huxley’s zu sein; froh im metaphysischen Sinne scheinen auch die 1.500 Besucher, die die linke Rock-Institution bei deren bereits drittem Berlin-Auftritt in diesem Jahr erleben. Zugleich geht das Tocotronic-Festjahr in die letzte Runde – 20-jähriges Bestehen feiert die Combo 2013. Im Bühnenhintergrund schleicht ein Panther angriffslustig aus einem fünfzackigen roten Stern heraus. Von „Kapitulation“ ist noch nichts zu spüren.
Es ist einfach nur Rock
Mit „Let there be Rock“ wird zu Beginn entsprechend der heilenden und revolutionären Kräfte des Rock gedacht – Herrgott, verflixt noch mal, nun lass da doch Rock sein! Großartig. Das Fazit des Abends nimmt der Song vorweg: Es ist einfach nur Rock. Nicht mehr, garantiert auch nicht weniger. Ein Abend in Akkorde gegossener Eskapismus.
So verweigert man sich im vierten Song kollektiv der Leistungsmentalität und 24/7-Bereitschaft: „Sag alles ab“, brüllen alle im Chor, ehe der Song einsetzt. Daraufhin widmet sich die Band der Sozial- und Einwanderungspolitik im Heimatland: „Aber hier leben, nein danke“. Nach dem Song brüllt von Lowtzow: „Kein Mensch ist illegal.“
Neben den Songs des jüngsten Albums streuen Tocotronic alte Hits ein; während sich zwei junge Mädchen im Publikum gerade über Goethe und Kafka austauschen, schwelgen die älteren wohl in Erinnerungen an vergangenen Liebeskummer bei „Drüben auf dem Hügel“. In Gedenken an die jüngst verstorbene Berliner Musikerin Almut Klotz hofft die vierköpfige Combo dann, „Die Revolution / werde zuletzt den Tod / abschaffen“.
Nach gut eineinhalb Stunden lässt das Publikum die vier Musiker, die live immer noch ein wenig wie die Trainingsjackenjungs von einst rüberkommen, nicht so zugabenlos davonkommen. Zwar sind die Kids der Familie in den hinteren Reihen langsam müde und nölig, die Eltern aber applaudieren weiter. So folgt „Freiburg“, ein Gruß an die Fahrradfahrer und die Tanztheater jener Stadt. Nach „Kapitulation“ folgt schließlich auch noch „Jungs, hier kommt der Masterplan“ vom 95er-Album „Digital ist besser“. Denn während das Saallicht im Huxley’s längst schon wieder brennt, erzwingt eine vielleicht fünfhundertköpfige Meute mit halbstündigem Johlen noch Zugabe Nummer vier, man feiert das Konzert wie einen Heimsieg. Der es ja auch irgendwie war. JENS UTHOFF