: Selbstdarstellung als Potenzial
THEATER Das sechste No-Limits-Festival für Künstler und Publikum mit und ohne Behinderung startet mit starken Stücken zu Identitäts- und Sinnfragen. Panaibra Gabriel Candas „Borderlines“ sticht dabei besonders heraus
VON ASTRID KAMINSKI
Wie auf eine Fliege hechtet er auf die Frau im roten Kleid zu, in der Hand einen Backstein, mit dem er sie erschlagen will, wieder und wieder, unerträglich brachial. Wie fühlt sich jemand, der gerade Gewalt verübt, vielleicht sogar gemordet hat? Und will man das überhaupt wissen? Wenn der Täter hinter geschlossenen Türen verwahrt wird, müssen sich nur wenige diese Frage stellen. In einem Land wie Mosambik, in dem ein großer Teil der Bevölkerung mit den Folgen von 15 Jahren Bürgerkrieg leben muss, ist die Wahrscheinlichkeit, einem Täter auf offener Straße zu begegnen, schon eher gegeben.
Es ist ein starkes Bild, das der Choreograf Panaibra Gabriel Canda in „Borderlines“ im Spannungsfeld zwischen Abscheu und Schuld im ausverkauften Kreuzberger HAU 3 entwickelt. Gezeigt wird dieser letzte Teil seiner „(In)Dependence“-Trilogie im Rahmen des internationalen No-Limits-Festivals, bei dem 200 Künstler mit und ohne Behinderung auf verschiedenen Berliner Bühnen auftreten. „Borderlines“ bleibt dabei ein Solitär unter den Eröffnungsgastspielen: Die fünf Darsteller aus Maputo tanzen oder spielen sich – anders als in anderen bisher gezeigten Vorführungen – nicht selbst.
Zwei Frauen und ein Mann beugen sich über den Täter, dringen in die Intimsphäre ein und täuschen Küsse vor. Der Körper windet sich, zuckt. Es ist kein Akt des Verzeihens, der sich hier abspielt, sondern eine komplexe Verflechtung von Körper, Instinkt und Seelischem, von Ausstülpung und Einstülpung, Gesellschaft und Einzelnem. Ein Bild, das genügend offenlässt, auch wenn der Tätertänzer die Szene später in Worte gießt: „No / body knows the trouble I’ve seen“, und sich ein ganz klares Gegenbild einstellt: Wenn es auch sonst keiner gesehen hat, der Körper hat es gesehen.
An dieser Stelle aber, mit dem verbalen Deuten darauf, fängt dieser Körper an, zwischen Rolle und Ausführendem zu alternieren. Der Tänzer hat ein eingedrehtes und verkürztes Bein, eine Konstitution, die in scheinbarem Gegensatz zur rohen Stärke der Gewalt steht. Er könnte sich vor dem Wüten, das er auf der Bühne darstellt, in der Wirklichkeit kaum schützen, er wäre zu langsam, ausgeliefert.
Fragen der Autonomie
Dieser kurze Moment der Irritation ist auch ein Hinweis darauf, worum es in P. G. Candas Choreografie über Grenzsituationen und Kriegswunden eben nicht geht: Er erzählt lediglich in einem winzigen Detail, woraus seine Kollegen ein abendfüllendes Thema machen. Offensichtlich haben Leiter und Team des Festivals, das noch bis zum 17. November läuft, in den Eröffnungstagen die momentan meistdiskutierte Form des Theaters von oder mit Menschen mit Behinderungen in den Fokus genommen: die Exposition der realen körperlich-geistigen Verfassungen und des jeweiligen Umgangs damit in der Zusammenarbeit mit Starchoreografen.
Das ist ein spannendes Echo auf den Durchbruch, den Jérôme Bel und das Zürcher Theater Hora im letzten Jahr mit „Disabled Theatre“ feierten. Ein seit Jahren bestehendes Ensemble, das bislang kein übliches Stadttheaterpublikum erreicht hatte, wurde zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Die Darstellerin Julia Häusermann bekam dafür, dass sie „sich selbst spielte“, den Alfred-Kerr-Darstellerpreis.
Die wesentlichen Fragen, die folgten, kreisten um Autonomie und Selbstbestimmung sowie um die Frage, wer hier eigentlich behindert ist: die Darsteller oder unter anderen rezeptionsunfähige Kritiker, für die schon die Tatsache, dass Menschen sich nicht auf dieselbe Art ausdrücken können wie sie selbst, als Zeichen der Unterwürfigkeit galt? Dass der Umgang mit diesen Fragen noch längst nicht entschieden ist, haben sowohl die Starregisseure und -choreografen als auch die Akteure mit Behinderungen in den letzten Jahren als ihr Potenzial erkannt. Und das wird mutig ausgeschöpft – auch wenn sich an Panaibra Canda und seinem Ensemble zeigt, dass es nicht Bedingung für einen Publikumserfolg sein muss.
Im Gegenteil. Wenn sich Menschen mit Behinderungen dem Publikum stellen, aus ihrem Leben erzählen oder zeigen, was sie können, denken, fühlen und welche Ambitionen sie haben, kann das auch schiefgehen. Die Gruppe Per.Art aus dem serbischen Novi Sad nutzt den Theaterraum, um erst einmal überhaupt auf sich und die eigene Lust am Spielen aufmerksam zu machen. Motto: Wer die Begabung zur Selbstdarstellung hat, nutzt sie aus, die anderen fiebern mit.
Das älteste Stück, das dagegen gut nach dem Introduktionsprinzip funktioniert, ist Clara Andermatts Choreografie „Streckt die Arme wie Antennen in den Himmel“ von 2005 für die inklusive madeirische Kompanie Dançando com a Diferença, gefolgt von Rui Hortas „Beautiful People“ für dieselbe Gruppe. Hier scheint aber auch durch, wie gut die Künstler ausgebildet sind. Sie sind Vorreiter in Sachen Tanztechnikadaption für Menschen mit eingeschränkten Bewegungskapazitäten. Dennoch merkt man der Ästhetik der Stücke an, dass sie nicht ganz zeitlos ist. Die Fiktionalisierung der persönlichen Situationen der Tänzer gerät, durch die Choreografie verstärkt, gelegentlich zur Pseudopoesie.
Nach dem Genickbruch
Anders in der Regiearbeit „Qualitätskontrolle“ von Rimini Protokoll (Helgard Hauk, Daniel Wetzel) mit der Selbstdarstellerin Maria-Cristina Hallwachs, die mithilfe zweier Pfleger, der Musikerin Barbara Morgenstern und einer Beatmungsmaschine eine Geschichte ihres Lebens nach dem Genickbruch erzählt. Hallwachs bewahrt, mit einem untrüglichen Gespür fürs Timing, eine fast kühle Distanz zum eigenen Schicksal und wählt damit eine Erzählhaltung, die dem Publikum Raum für eigene Gefühle lässt. Und dieser Raum füllt sich mit schier unaushaltbaren Konfrontationen.
Auch wenn das zweite Thema des Abends, Hallwachs’ Forschung zu Positionen der Pränataldiagnostik, den Rahmen des biografischen Erzählens eigentlich sprengt, ist offensichtlich, warum ihr das Thema so wichtig ist. Sie konnte und musste einst selbst über ihr Weiterleben entscheiden. Ungeborene Kinder können das nicht. Was das heißt, dafür findet auch Hallwachs keine sicheren Kriterien. Wessen sie aber gewiss ist: „Dass man sich etwas nicht vorstellen kann, ist kein Argument für oder gegen etwas.“ Letztendlich ist es wahrscheinlich kein Zufall, dass die Berlin-Premiere dieses Stücks auf den 9. November gelegt wurde.
Die ersten Tage der sechsten Ausgabe von No Limits haben, einschließlich einer ergiebigen Konferenz zur Autonomie des Performers, so intensiv ins Zeitgeschehen geführt, dass es einmal mehr erstaunt, wie dringend und offen die Fragen sind und wie viele Gelegenheiten verpasst werden, darüber nachzufühlen.