: Integration – viel besser als ihr Ruf
EINWANDERUNG Erstmals hat der unabhängige Sachverständigenrat ein Integrationsbarometer erstellt. Es zeigt, dass Migranten und Deutschstämmige pragmatisch und mit Grundvertrauen zusammenleben. Ihre Vorstellungen von Integration sind ähnlicher als gedacht
■ Das Expertengremium: Acht unabhängige Stiftungen, darunter die Stiftung Mercator, die Volkswagen-, die Bertelsmann- und die Freudenberg-Stiftung, haben Ende 2008 den unabhängigen Sachverständigenrat (SVR) für Migration und Integration ins Leben gerufen. Vorsitzender ist der renommierte Migrationsforscher Klaus J. Bade, acht weitere WissenschaftlerInnen unterschiedlicher Disziplinen gehören dem SVR an.
■ Die Aufgabe: Das Expertengremium soll die Entwicklung von Migration und Integration und der entsprechenden Politik kritisch begleiten. Dazu hat der Sachverständigenrat jetzt ein erstes Jahresgutachten vorgelegt. Ein Teil davon ist das Integrationsbarometer, für das von nun an alle zwei Jahre Daten erhoben werden sollen.
■ Das Integrationsbaromter: Die Studie untersucht die Integration im Alltag, fragt nach Einschätzungen, Erwartungen und gegenseitigem Vertrauen und stellt fest, was beide Seiten der Einwanderungsgesellschaft voneinander halten. Dazu wurden 5.600 Menschen mit und ohne Migrationshintergrund in den Großräumen Stuttgart, Rhein-Main und Rhein-Ruhr befragt. Im Ostteil Deutschlands wurden keine Daten erhoben, die Studie ist für den Westteil des Landes repräsentativ, wo 91 Prozent der Migranten leben.
VON SABINE AM ORDE
Geht es in der öffentlichen Debatte um die Einwanderungsgesellschaft, wird gern das Schreckensbild von der gescheiterten Integration beschrieben. Von Schulversagern, Arbeitslosen und integrationsunwilligen Türken ist dann die Rede, von Zwangsheiraten, Parallelgesellschaften und kriminellen Migrantenkids. Das Jahresgutachten, das der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration am Mittwoch vorgestellt hat, wirft ein anderes Licht auf den Zustand der deutschen Einwanderungsgesellschaft: „Integration in Deutschland ist, trotz einiger Problemzonen, gesellschaftlich und politisch ein Erfolgsfall“, so lautet das Fazit von Klaus J. Bade, dem Vorsitzenden des Sachverständigenrats. „Sie ist im internationalen Vergleich viel besser als ihr Ruf im Land.“
Grundlage dieser Einschätzung ist das erste Integrationsbarometer, eine repräsentative Studie, die der Sachverständigenrat selbst erstellt hat. „Das Integrationsbarometer signalisiert verhaltenen Integrationsoptimismus auf beiden Seiten der Einwanderungsgesellschaft, ein gemeinsames, pragmatisches Verhältnis zu Integrationsfragen und ein belastbares gegenseitiges Grundvertrauen“, fasst Bade das Ergebnis zusammen. Der mit dem Integrationsbarometer erstmals gemessene Integrationsklima-Index, der künftig alle zwei Jahre erhoben werden soll, registriert laut Bade „einen positiven Mittelwert“: Auf einer Skala von 0 (sehr schlecht) bis 4 (sehr gut) liegt er für das vergangene Jahr bei der Mehrheitsgesellschaft bei 2,77, bei den Einwanderern mit 2,93 noch etwas höher. Der Index erfasst keine Strukturdaten wie die Höhe der Arbeitslosenquote oder die Bildungsabschlüsse. Er misst Erfahrungen und Einstellungen der Befragten für verschiedene Bereiche der Integration, darunter Arbeitsmarkt, Nachbarschaft und das Bildungssystem.
Damit ist die Studie eine echte Neuerung: Die Forscher haben erstmals Menschen mit und ohne Migrationshintergrund nach ihren Einschätzungen und Erwartungen in Sachen Integration sowie zur entsprechenden Politik befragt. Und sie haben erhoben, was die beiden Seiten der Einwanderungsgesellschaft voneinander halten und erwarten.
Dabei hat der Sachverständigenrat durchaus überraschende Tendenzen zutage gefördert: So ist von deutschen Integrationsmuffeln und integrationsfeindlichen Migranten wenig die Rede. Deutsche und Einwanderer bescheinigen sich selbst und auch der jeweils anderen Gruppe ein Interesse an Integration. Nur ein Viertel der Migranten und ein Fünftel der Deutschstämmigen gehen davon aus, dass es der eigenen Gruppe an Integrationsinteresse mangelt. Und nur ein Fünftel der Einwanderer und 30 Prozent der Mehrheitsbevölkerung beklagen dies bei der jeweils anderen Gruppe. Die Einwanderer sehen sich selbst also kritischer als die Deutschen.
Beide Seiten sind sich im Wesentlichen auch darüber einig, welche Maßnahmen für die Integration besonders wichtig sind: die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Diskriminierung sowie die Bereitstellung von Sprachkursen. In den Erwartungen, die mit Blick auf die Integration an die Einwanderer gestellt werden, liegen beide Gruppen ebenfalls nicht weit auseinander: Die Migranten sollen sich um Arbeit bemühen, Deutsch sprechen, einen guten Abschluss anstreben, die hiesigen Gesetze beachten und Freundschaften mit Deutschen schließen, meinen beide Gruppen. Die von Politik und Publizistik häufig erhobene Forderung, dass Einwanderer religiöse und kulturelle Lebensweisen aufgeben sollten, wird dagegen selten genannt. Die Studie bescheinigt Deutschen und Einwanderern ein „pragmatisches Integrationsverständnis“, das auf die Forderung nach kulturelle Anpassungsleistungen weitgehend verzichte.
■ Die Bildung: Der Sachverständigenrat (SVR) mahnt Reformen im Bildungsbereich an. Das Fehlen von Chancengleichheit für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund belaste den Arbeitsmarkt und gefährde den sozialen Frieden. Deshalb fordert der SVR eine nachholende Bildungs- und Qualifikationsoffensive. Insbesondere der „sich selbst verstärkende bildungspolitische Teufelskreis“, dass bildungsnahe Eltern ihre Kinder nicht auf Schulen mit hohem Migrantenanteil schicken, müsse aufgebrochen werden.
■ Die Einwanderung: Auch bei der Migration sehen die Experten Handlungsbedarf. Weil es zu wenige Einwanderer gibt, verschärft sich der Fachkräftemangel am Arbeitsmark, der Reformdruck auf die Sozialsysteme wird stärker. Notwendig sei daher die Förderung einer qualifizierten und bedarfsorientierten Einwanderung.
■ Die Integrationspolitik: Laut Sachverständigenrat muss das Augenmerk der Integrationspolitik stärker auf Chancengleichheit in den Bereichen Bildung, Ausbildung und Arbeit gerichtet werden und weniger auf die Problematisierung kultureller und religiöser Unterschiede. Diese spielen laut SVR zwar in der Publizistik eine wichtige Rolle, im Alltag der Einwanderungsgesellschaft aber eine nur sehr untergeordnete.
Die meisten Befragten fühlen sich wohl in Deutschland. Mit einem kleinen Unterschied: Während nur jeder 20. Migrant sagt, er fühle sich unwohl, ist es bei den Deutschstämmigen jeder 15. Die erlebte Diskriminierung ist bei den Migranten laut Studie „geringer als erwartet“: Je nach Bereich haben zwei Drittel bis 80 Prozent damit keine Erfahrung. Besonders selten soll diese im Bereich der Religionsausübung sein – was der weit verbreiteten Darstellung widerspricht, praktizierende Muslime würden diskriminiert. Am häufigsten wird Diskriminierung seitens Ämtern und Behörden beklagt.
Positiv schätzen beide Seiten die Integrationspolitik ein: Jeweils etwa die Hälfte beider Gruppen meint, dass sich die Integrationspolitik der letzten fünf Jahre „wesentlich“ oder zumindest „etwas“ verbessert habe. Zur gegenteiligen Einschätzung kommen nur 10 bis 15 Prozent der Befragten. Die Hälfte beider Gruppen erwartet entsprechend in der Zukunft Verbesserungen bei der Integration. Nur jeder siebte Befragte ohne Migrationshintergrund und jeder sechste Einwanderer rechnet mit Verschlechterungen.
Trotz vieler positiver Ergebnisse zeigt auch der Sachverständigenrat Probleme auf. So könne von gleichen Bildungs- und damit Lebenschancen von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund nicht die Rede sein. Trotz des friedlichen und pragmatischen Umgangs mit Integration könne die steigende Anzahl der „perspektivlosen sozialen Verlierer“ zu aggressiver Spannung führen, die den sozialen Frieden gefährde. Bade nennt das ein „Integrationsparadox“. Nötig sei eine gezielte, auch nachholende Bildungs- und Qualifikationsoffensive, die die Vererbung sozialer Startnachteile begrenze. „Bildungsinvestitionen sind nachhaltiger als Bankensubventionen“, so der Migrationsforscher.
Ein zweites Paradoxon sieht er in der Bildungsfrage. Obwohl beide Gruppen mehrheitlich positive Erfahrungen mit ethnisch heterogenen Schülerschaften gemacht haben und Chancengleichheit im Bildungssystem fordern, zweifeln Mehrheitsgesellschaft und Einwanderer daran, dass Kinder an ethnisch gemischten Schulen genauso viel lernen wie an anderen. Entsprechend sind Eltern beider Gruppen – insbesondere wenn sie Mittel- und Oberschicht angehören – häufig nicht bereit, ihre Kinder auf Schulen mit einem hohen Migrantenanteil zu schicken. „Diese Einstellung zu ändern ist die große bildungspolitische Herausforderung“, sagt die stellvertretende Vorsitzende des Sachverständigenrats, die Hamburger Erziehungswissenschaftlerin Ursula Neumann. Dies, so heißt es im Gutachten, könne nur mit nachhaltiger finanzieller und konzeptioneller Förderung der betroffenen Schulen gelingen. An diesem Problem kommt eben auch ein optimistischer Integrationsindex nicht vorbei.
Meinung + Diskussion SEITE 12