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Archiv-Artikel

Unter der Nase der Deutschen

TSCHARDARA Bevölkerung war schon vor dem Abzug der deutschen Soldaten Spielball von Taliban und Miliz

Kundus: Daten und Fakten

■  Die nordafghanische Stadt Kundus mit geschätzten 125.000 Einwohnern ist Hauptstadt der gleichnamigen Provinz (circa 950.000 Einwohner). Die Stadt war im November 2001 die letzte von den Taliban gehaltene Hochburg im Norden des Landes. Nach tagelangen Verhandlungen ergaben sich die Taliban, während Pakistans Geheimdienst dutzende Kämpfer und Extremisten ausfliegen ließ. Nach der Gefangennahme erstickten hunderte gefangener Taliban in Lkw-Containern.

■  Die US-Armee schickte im April 2003 ein sogenanntes bewaffnetes Wiederaufbauteam (PRT) in die Stadt. Das wurde im Dezember 2003 durch ein deutsches PRT ersetzt, das zur Isaf-Truppe gehörte und bis 2010 auf 1.200 Soldaten ausgeweitet wurde. Am 4. September 2009 wurden bei einem von der Bundeswehr angeforderten Luftangriff bis zu 142 Menschen getötet, die meisten davon Zivilisten. Nach dem schrittweisen Abzug der Bundeswehr wurde das deutsche Feldlager am 6. Oktober an afghanische Sicherheitskräfte übergeben. (han)

BERLIN taz | Der Überfall auf Loi Kanam begann im Morgengrauen. Zuerst feuerten die Angreifer Raketen in sein Dorf, erinnert sich Hadschi Mirsa Ali, einer der Dorfältesten, dann kamen sie selbst, zerrten die schlafenden Menschen aus ihren Häusern und legten Feuer. Nach zwei oder drei Stunden waren zwölf Einwohner tot.

Eine Frau habe sich noch schützend über ihren Mann geworfen. Vergeblich, beide wurden erschossen. „Ich rief den örtlichen Geheimdienst an, dann den Polizeichef, schließlich den Gouverneur“, sagt Hadschi Mirsa. „Die Polizei kam erst morgens um zehn, als die Verbrecher schon wieder abgehauen waren.“ Dieser Vorfall aus dem September vorigen Jahres ist symptomatisch für die Lage in der nordafghanischen Provinz Kundus – und das hat sich bis heute nicht geändert. Sie ist zugleich ein Beispiel für die komplizierte Gemengelage, die den Konflikt in Afghanistan prägt.

Kundus war für die Deutschen, die hier von 2003 bis Oktober 2013 ein „Bewaffnetes Wiederaufbauteam“ (PRT, siehe Kasten) führten, lange Zeit eine Region, in der sie sich sicher fühlten: Sie vertrauten auf ihre guten Beziehungen zu einflussreichen Persönlichkeiten vor Ort. Darunter waren auch Stammesführer, die den Taliban nahestanden. Was der Bundeswehr und dem Bundesnachrichtendienst BND aber verborgen blieb, war die zunehmende Schwäche der Leute, auf die sie bauten. So konnten die Taliban ihre Strukturen in Kundus unter der Nase der Deutschen erneuern, und der Bezirk Tschardara wurde eine ihrer Hochburgen in der Provinz.

Im Mai 2007 schlugen sie zum ersten Mal direkt zu. Bei einem Selbstmordanschlag im Basar der Provinzhauptstadt starben drei Bundeswehr-Reservisten. In den folgenden Jahren vertrieben deutsche Soldaten gemeinsam mit afghanischen Truppen und US-Sondereinheiten in einer großen Offensive die Aufständischen aus Tschardara.

In dieser Zeit ereignete sich in Tschardara am 4. September 2009 auch der folgenschwere Bombenangriff auf zwei von Taliban in ihre Gewalt gebrachte Tanklastwagen, befohlen vom damaligen deutschen PRT-Kommandeur Oberst Georg Klein, bei dem 90 Zivilisten ums Leben gekommen sein sollen.

Doch schon 2011 wendete sich der Trend in Kundus wieder: Die Taliban-Führung schickte neue Kämpfer, Mordanschläge auf Regierungsvertreter nahmen zu. Als die Autoren zuletzt im August 2013 Tschardara besuchten, war der Zustand von vor der Offensive bereits weitgehend wiederhergestellt; die Taliban kontrollieren die meisten Gebiete außerhalb des Distriktzentrums.

Die Art der Aufstandsbekämpfung schuf dort sogar neue Konfliktlinien, die sich für Afghanistan in Zukunft als höchst destabilisierend erweisen könnten. Der Überfall auf Loi Kanam ging nämlich nicht von Taliban, sondern von örtlichen Milizen aus, die offiziell auf Regierungsseite stehen. Die Angreifer nahmen Kollektivrache für den Tod eines Kameraden, dessen Leichnam tags zuvor in dem Dorf gefunden worden war.

Als eine Art Dorfschützer vom afghanischen Geheimdienst und US-Spezialeinheiten aufgestellt, wurden diese Milizen 2011 zur Afghan Local Police (ALP) zusammengefasst und pro forma dem Innenministerium in Kabul unterstellt. Menschenrechtler kritisierten sie bald als gewalttätige Truppe. Die Deutschen kooperierten mit diesen neuen Milizen, auch wenn das heute offiziell abgestritten wird.

Daneben arbeiten in Kundus weitere Milizen auf eigene Faust. Für die Bevölkerung ist ein Unterschied zwischen ihnen und der Afghan Local Police kaum zu erkennen. Zudem laufen die Fäden der ALP und der inoffiziellen Milizen bei dem örtlichen Machthaber Mir Alam zusammen, dessen eigene Milizen nie entwaffnet wurden – und der eng mit einem lokalen Taliban-Führer befreundet ist. Ein Bewohner von Tschardara: „Wenn die ALP unter den Leuten Respekt genösse, würde es die Taliban hier nicht geben.“ THOMAS RUTTIG

Mitarbeit: Lola Cecchinel und Gran Hewad, Tschardara.

■  Thomas Ruttig ist Kodirektor des Afghanistan Analysts Network, Gran Hewad ist dort Mitarbeiter. Lola Cecchinel ist eine unabhängige Forscherin, die ein Jahr in Tschardara arbeitete