Der Dokumentator

Seit sieben Jahren erforscht Ferdinand Krogmann die Geschichte des Künstlerdorfs Worpswede während des „Dritten Reichs“. Das Leben in dem idyllischen Örtchen hat sich der frühere Lehrer dadurch nicht gerade leichter gemacht

Aus Worpswede Henning Bleyl

Als Erstes will Ferdinand Krogmann die Baracken des Reichsarbeitsdienstes zeigen. Aber: Fehlanzeige. Anstelle der steinernen Unterkünfte liegt ein frisch eingezäunter Gewerbehof. Achselzuckend wendet der 57-Jährige seinen Mercedes: „Die müssen gerade abgerissen worden sein.“ Wer mit Ferdinand Krogmann durch Worpswede fährt, erfährt trotzdem viel. „Dort“ – er deutet auf einen stattlichen reetgedeckten Hof – „gab es die Aktion ,Hier wird für den Führer gewebt‘“. Eine textile Huldigung, die Hitler 1936 auf dem „Reichsbauerntag“ entgegennahm. Hausherr Albert Reiners wurde nach 1945 trotzdem Bürgermeister von Worpswede und Landrat des Kreises.

Als Krogmann vor sieben Jahren aus dem Westerwald nach Worpswede zog, wollte er sich Literatur zur jüngeren Geschichte des berühmten Künstlerdorfes besorgen – das Interesse eines Zugereisten, zumal das des früheren Geschichtslehrers. Nicht weit entfernt von seinem Haus liegt die Buch- und Kunsthandlung Netzel, die älteste der 14 Galerien des Ortes. Dort fand er nichts. „Da bin ich gleich bei den Richtigen gelandet“, erzählt Krogmann trocken. Galerie-Gründer Friedrich Netzel war, wie der passionierte Archivgänger später herausfand, schon frühzeitig „Stahlhelm“-Aktivist und SA-Oberscharführer. Nach und nach traten auch Netzels Angehörige der NSDAP bei.

Mittlerweile kennt Krogmann, der Zugezogene, die Familiengeschichten wie wohl kein anderer. Er hat sich die Mühe gemacht, die Ausgaben der Wümme-Zeitung und anderer Regionalblätter Jahr für Jahr durchzugehen. Schon ab 1929, „denn es ist ja erstaunlich, wie nahtlos das ineinander überging“. Krogmann beschleunigt. Vorbei an der heutigen „Music Hall“, vormals Versammlungsstätte der immerhin 300 eingetragenen Worpsweder Nationalsozialisten, geht es zur Mackensen-Villa am Rand des idyllischen Dorfes. Malerfürst Fritz, zusammen mit Otto Modersohn einer der legendären Künstlerkolonie-Gründer, avancierte seinerzeit zum Direktor der „Nordischen Kunsthochschule“. Dass er sein schickes Domizil ohne Rücksicht auf Bebauungspläne platzieren konnte, hatte allerdings nichts mit Hitlers Wertschätzung oder Mackensens Engagement im „Kampfbund für Deutsche Kultur“ zu tun: „Sein Bruder war in der Verwaltung tätig“, weiß Krogmann.

Der Mythos von der unpolitischen Kunstinsel

Wir fahren weiter. Worpswede ist ein Ort, in dem Nazis und Deutschnationale schon bei der letzten noch freien Reichstagswahl 66 Prozent der Stimmen bekamen – 15 mehr als reichsweit. Nichtsdestotrotz wird der Mythos der unpolitischen Kunstinsel gepflegt, die Künstler sind das touristische Kapital der Kommune.

Nächste Station: der Nieder–sachsenstein. Ein imposantes, meterhohes Backsteingebilde, das über dem Weyerberg thront. Bernhard Hoetger, Erbauer der berühmten Bremer Böttcherstraße, habe hier ein „Mahnmal für den Frieden“ geschaffen, informiert eine Tafel. Solche Umdeutungen ärgern Krogmann. „Käse“ sei das. Hoetger habe nichts anderes als einen Adler geschaffen, der, ausgerichtet in der Ost/West-Achse, sowohl den Russen als auch dem Erbfeind Frankreich Paroli bieten sollte. Dem Worpswede-Marketing zufolge war die Entstehung der Künstlerkolonie ab 1889 ein früher Ausfluss des „europäischen Gedankens“. Das entlockt Krogmann nur verständnisloses Schnauben. Die Kunstauffassung der Kolonie-Gründer, sagt er, sei durch und durch völkisch geprägt gewesen.

Zwischenstopp bei der „Großen Kunstschau“: das größte der sechs Worpsweder Museen, gerade aufwendig restauriert. Draußen steht Hoetgers Statue „Der Tag“. Nichts erinnert an die Vorgeschichte der Figur: Sie stand auf einem mit SS-Runen versehenem Sockel im „Himmelssaal“ der Böttcherstraße, Symbol für den Anbruch eines „neuen Zeitalters“. Der ideologische Zusammenhang ist im Sammelband „Landschaft, Licht und niederdeutscher Mythos“ nachzulesen, Krogmanns erster Auseinandersetzung mit der Thematik. Erschienen ist der Band im fernen Weimar und vor Ort nur selten vorrätig.

Gibt es Unterstützung im Dorf? Der SPD-Vorsitzende, sagt Krogmann, ist immerhin zu einer Lesung nach Bremen gekommen – der sei im Übrigen mit Heinrich Vogeler verwandt, dem berühmt-berüchtigten Worpsweder Jugendstil-Kommunisten. Einmal ist Krogmann in die hiesige Schule eingeladen worden, um der Heimatkunde etwas aufzuhelfen. Und einmal hat ihn ein Künstlerabkömmling im Supermarkt angebrüllt: „Über uns schreibst du nichts Schlechtes!“ Danach mied Krogmann das Geschäft, obwohl direkt gegenüber seines Hauses gelegen.

Im Ort ist er ohnehin nicht viel unterwegs. Umso öfter hält sich Krogmann in Archiven auf, etwa im Berliner Bundesarchiv, wo die Personalakten der Reichskulturkammer verwahrt werden. Warum macht sich jemand dermaßen viel Mühe – und damit auch noch unbeliebt? Krogmann sucht nach einer Antwort, dann fällt ihm ein Kafka zugeschriebener Satz ein: „Die Welt ist auf der Lüge aufgebaut.“ Sofort fügt er hinzu: „Das finde ich aber nirgends belegt.“ Ohne Frage hat Krogmann ein moralisches Anliegen. Was ihn überdies wirklich wurmt, sind Lücken in der Dokumentation. Und da hat Worpswede viel zu bieten.

Ferdinand Krogmann, der Gründliche, verfasst unermüdlich Leserbriefe. Wenn in der Wümme-Zeitung wieder ein argloser Artikel über die Verdienste diverser Lokalheroen erscheint, notiert er in sachlichem Tonfall, was den Archiven zu entnehmen ist. Oft beginnen diese Beiträge mit der schlichten Feststellung: „Das Bild ist unvollständig, es muss ergänzt werden.“ Um dann darzulegen, dass der allseits verehrte Heimatschriftsteller Wilhelm Scharrelmann förderndes SS-Mitglied war. Und Maler Modersohn ein Professor von Führers Gnaden.

Worpswede lässt einen so schnell nicht los

Vor drei Jahren hat Krogmann eine noch größere Kulturikone „ergänzt“: Rainer Maria Rilke. Der lebte ebenfalls im Künstlerdorf und wurde im Rilke-Jahr mit umfangreichen Ausstellungen bedacht. Immer noch ist Krogmann enttäuscht: Niemand habe dabei wahrhaben wollen, dass der Dichter ein „furchtbarer politischer Irrtürmer“ gewesen sei. Etwa wenn er den „Apostel“ in der gleichnamigen Erzählung verkünden lässt: „Wenige Große“ würden „ein Reich bauen mit starken, sehnigen, herrischen Armen auf den Leichen der Kranken, Schwachen, der Krüppel. Ein ewiges Reich!“ Ein Sozialdarwinist und Mussolini-Verehrer, „ein geistiger Vorbereiter des Faschismus“, wie Krogmann Rilke nennt. Dessen Vermarktbarkeit tut das bis heute keinen Abbruch.

Eigentlich interessiert sich Ferdinand Krogmann auch für andere Dinge. Er schreibt über Tropenmedizin und hat früher besonders gern das Mittelalter durchgenommen. Aber: Worpswede lässt einen so schnell nicht los. Nach einem kleinen Aufsatz über den vor fast 30 Jahren verstorbenen Literaten Waldemar Augustiny sah sich Krogmann mit einer Unterlassungsklage konfrontiert – er hatte auf rassistische Propaganda hingewiesen, die in Augustinys damals populärem Roman „Die große Flut“ steckt. Dessen Sohn hielt dagegen, sein Vater sei „eine Zelle des geistigen Wiederstandes“ gewesen, im Übrigen Träger des Bundesverdienstkreuzes. Nicht zuletzt hatte der Senior als Vorsitzender des regionalen Entnazifizierungs-Ausschusses fungiert. Zur Vorbereitung auf den Prozess wühlte sich Krogmann dann noch mal tiefer in die Archive. Ergebnis: Das Gericht gab ihm Recht, vor allem aber ist ein eigenes Augustiny-Buch entstanden. Gefüllt mit Material über die einschlägige Heimatkunstbewegung und Augustinys Aktivitäten beim „Kampfblatt für den Nationalsozialismus“.

Krogmanns Haus, das Ende der Rundtour, liegt in der gleichen Straße wie das seines Prozess-Gegners. Er möchte es demnächst verkaufen, denn wirklich wohl fühlt er sich im Künstlerdorf nicht. Vor dem Wegzug soll allerdings noch die „Kritische Chronik“ fertig werden. Ihr Arbeitstitel: „Worpswede 1933 bis 1945 – die schön entfaltete Volksgemeinschaft“. Ein persönlicher Schlussstrich, sagt Krogmann.