Die Ehe nicht führen, nur nachspielen

CANNES CANNES 8 Abbas Kiarostami sinniert in den Hügeln der Toskana über das Verhältnis von Original und Kopie

Unter der etwas betulich wirkenden Oberfläche reißt Kiarostami Abgründe auf

VON CRISTINA NORD

Während das Festival seinen Gang geht, ist Jafar Panahi in den Hungerstreik getreten. Seit dem 1. März sitzt der iranische Regisseur im Teheraner Evin-Gefängnis; das Festival von Cannes lud ihn im April in die Jury des Wettbewerbs ein. In seiner Erklärung schreibt Panahi, dass er seit Sonntag weder gegessen noch getrunken habe. Die Gefängniswärter hätten ihn und andere Häftlinge misshandelt und ihm gedroht, seine Familie festzunehmen. „Ich möchte keine Ratte in ihrem Labor sein, kein Opfer ihrer kranken Spiele, bedroht und psychologisch gefoltert.“

Abbas Kiarostami lebt nicht mehr in Iran, auch sein jüngster Film, der Wettbewerbsbeitrag „Copie conforme“ („Beglaubigte Kopie“), hat sich weit fortbewegt. Er spielt in der Toskana, die Hauptdarstellerin ist Juliette Binoche, der Hauptdarsteller William Shimell, zwei französische und eine italienische Produktionsfirmen zeichnen verantwortlich. „Copie conforme“ lässt sich behäbig an. Der Kunsthistoriker James Miller (Shimell) hält einen Vortrag in Arrezzo. Seine These hat sich ein wenig überlebt: Das Original und die Kopie, argumentiert er, seien gleichwertig. Er begegnet der namenlos bleibenden Protagonistin, sie machen einen Ausflug im Auto, die hügelige Landschaft und die Zypressen ziehen im milden Licht vorüber, während James seine Theorien langatmig erläutert. Auf eine zu diesem Zeitpunkt des Film nicht klar greifbare Weise gehen die beiden ein wenig zu schroff miteinander um.

Die kunsthistorischen Exegesen sind nur die Ouvertüre für ein raffiniertes Vexierspiel. Zwischen den alten Gemäuern und den Renaissance-Gemälden eines kleinen Ortes, in dem gerade eine Hochzeit stattfindet, beginnen die beiden Figuren so zu tun, als seien sie seit 15 Jahren verheiratet. Sie verstricken sich in Streitereien über korkigen Wein, Zurückweisungen und das Einschlafen im falschen Augenblick. Alles wirkt wie die Wiederholung vergangener Streitereien; jeder Satz trägt die Last von vorangegangenen Verletzungen und Kränkungen in sich. Je länger „Copie conforme“ dauert, umso stärker wird der Zweifel, dass die Prämissen des Filmes sich geändert haben könnten: Die Figuren sind tatsächlich seit 15 Jahren verheiratet, ihr So-tun-als-ob fand statt, solange sie vorgaben, sich nicht zu kennen. Kopie – Original? Kiarostami lässt diese Frage ohne Antwort. Unter der etwas betulich wirkenden Oberfläche reißt er Abgründe auf.

Ein Beitrag zur Reihe „Un certain régard“ geht ähnlich vor. Der US-amerikanische Regisseur Derek Cianfrance erzählt in „Blue Valentine“ von einer Ehe, die im Begriff zu scheitern ist. Dean (Ryan Gosling) und Cindy (Michelle Williams) sind noch jung, sie ist Krankenschwester, er freischaffender Handwerker, sie leben auf dem Land in Pennsylvania und haben eine etwa fünf Jahre alte Tochter. Beim Frühstück pickt Dean für die Tochter die Rosinen aus dem Müsli, legt sie auf den Tisch, schleckt sie auf und ermuntert das Kind, es ihm gleichzutun: „Wir sind Leoparden! Leoparden fressen so!“ „Ich will nicht hinter zwei Kindern hinterherputzen“, sagt Cindy genervt. Einmal versucht sie ein ernstes Gespräch: Ob er denn keine Ambitionen für sein Leben habe, will sie von Dean wissen. Der entzieht sich, wird laut, sagt jeden Satz mehrere Male. „Warum verdammt noch mal soll ich Geld aus meinen Potenzialen machen?“, herrscht er Cindy an. Sie entgegnet: „Du drehst mir jedes Wort im Mund herum.“

Wie bei Kiarostami gewinnt man den Eindruck, dass die Figuren all dies schon hundertmal diskutiert haben, und wie bei Kiarostami wird die desolate Gegenwart des Paares dadurch kontrastiert, dass Rückblenden vom Glück des Neubeginns erzählen. „Blue Valentine“ zeichnet nach, wie Dean Cindy den Hof machte, und es ist hinreißend zu sehen, wie Cindy in einer Szene in einem Ladeneingang für Dean steppt. Tieftraurig dann, wie Dean am Ende einen Bürgersteig entlanggeht, in die Bildtiefe hinein, in der Feuerwerkskörper explodieren und eine diffuse Helligkeit herrscht.