Berliner Platten
: Von den musikalischen Plagen der Menschheit

Soulounge: „Say It All“ (Content/Edel)

In der Rangliste der größten Geiseln der Menschheit folgt nach Pest, Aids und Krebs gleich der singende Schauspieler. Ausnahmen, vor allem französische, bestätigen diese Regel hin und wieder, noch aber ist es zu früh, über Lenn endgültig den Stab zu brechen. Unter seinem kompletten Namen Lenn Kudrjawizki spielte der 31-Jährige bislang in Filmgroßproduktionen wie „Enemy At The Gates“ oder in der RTL-Serie „Abschnitt 40“. Auf seinem Debütalbum „PopArt“ bietet er ein ähnlich breites Spektrum an. Der stete Wechsel zwischen englischem und akzentgebrochenem deutschem Gesang, zwischen angestrengt Kunstlied-Artigem und auf altmodisch getrimmtem Cocktail-Jazz, avantgardistischen Anfällen mit schrägen Soundexperimenten und harmlos daherdudelndem Pop ist zumindest mutig, allerdings bisweilen verwirrend. Wenn Kudrjawizki dann auch noch die Geige auspackt und seine russisch-jüdischen Wurzeln anspielt, ist die Überforderung komplett.

Kaum weniger eine Plage ist die Suche nach dem Sound von Berlin. Eine Zeit lang schien man fündig geworden zu sein, lieferten 2raumwohnung oder Paula mit ihren elektronisch unterfütterten Popsongs mit urbanen Texten doch einen viel versprechenden und kommerziell erfolgreichen Ansatz. Nun aber bekommen wir es mit den Nachwehen zu tun: Großstadtgeflüster sind der Studiotüftler Raphael Schalz und die Sängerin Jen Bender. Schalz schraubt am Rechner so treibende wie stupide Beats zusammen, die die Techno-Vergangenheit der Stadt rekapitulieren. Bender stilisiert sich auf dem Debüt „Muss laut sein“ über diesen eingängigen 4/4-Brettern zur Vorzeigeschlampe, die mit der Eloquenz eines Taxifahrers vom Leben zwischen Tanzboden und Matratze erzählt: „Ich muss gar nichts außer schlafen, trinken, atmen und ficken/Und gelegentlich um sieben Uhr früh einen Burger verdrücken.“ So mag Bender in ihren Reimen zwar das Leben einer professionellen Nachtschwärmerin skizzieren, aber sobald sie singt, klingt es nach deutschem Schlager, wie eine Techno-Punk-Version von Blümchen.

Großstadtgeflüster: „Muss laut sein“ (X-Cell/SonyBMG)

Wenn Großstadtgeflüster zu Bett gehen, so am frühen Nachmittag, stehen Soulounge auf, um schon mal die Clubs voll zu rauchen, damit dort dann jene romantischen Schwaden hängen, durch die hindurch gespielt ihr gepflegter Bar-Jazz erst richtig seine Wirkung entfaltet: Das als Ableger der Cultured Pearls gestartete Projekt hat der Ursprungsformation mittlerweile fast den Rang abgelaufen und bietet – vergleichbar der Jazzkantine im Hiphop-Bereich – verschiedenen Sängern und Sängerinnen eine Plattform. Auf „Say It All“ sind Szenegrößen wie Gabriel Gordon, Esther Cowens, Grace oder Roger Cicero dabei. Zusammen stellt man so geschickt einige der abgegriffensten Klischees aus Soul und Vocal-Jazz nach, dass problemlos eine neue Qualität entsteht: Die von Hochleistungskopisten betriebene Zeitmaschine entführt einen in die goldenen Zeiten eines Genres, die nie so glücklich waren wie in der romantisch verklärten Rückschau.

Lenn: „PopArt“ (Legrain/ Bell)

Thomas Winkler