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Archiv-Artikel

Das Schloss der Träume

SEHNSUCHT Draußen Schloss, drinnen Kommune – so einfach wie im Märchen ist das nicht

Ana, die lieber in Bildern denkt und fühlt, hadert mit den rechtlichen Feinheiten

AUS GERSDORF CLEMENS HAUG

Ein kalter Wintertag: Mit wirrem Blick und zerzaustem Haar steht Georg* in der Küche und schreit einen neuen Mitbewohner an: „Du willst unsere Kinder vergewaltigen!“ Warum er so außer sich geriet, kann er niemandem erklären. Nächtelang hatte er zuvor nicht mehr geschlafen und fühlte sich von allen verfolgt.

Die anderen Kommunarden reagieren ratlos. Sind sie schuld an Georgs Zustand? Können sie ihm helfen? Falls nicht, sollen sie ihn rauswerfen? Immerhin lebt Georg schon seit zwei Jahren mit ihnen im Schloss. Zwar waren seine Sätze oft schwer verständlich. Trotzdem hat der Recycling-Künstler mit der großen Brille geniale Einfälle: Aus kaputten Fahrradschläuchen machte er Taschen, aus alten Autogurten knüpfte er Hängematten, rostige Einkaufswagen verwandelte er in Sessel.

Doch nun schleicht er schlaflos durch die langen Flure und richtet Schäden an. Eine Woche vergeht, ehe seine Mitbewohner und -bewohnerinnen einig sind: Georg braucht professionelle Hilfe. Einer der Kommunarden überredet ihn zur Fahrt in die Klinik.

Nicht immer ist das Leben so turbulent auf dem eineinhalb Hektar großen, 400 Jahre alten Rittergut in Gersdorf, einem kleinen Dorf in Sachsen. Dreizehn Erwachsene und sechs Kinder leben derzeit im Haupthaus mit seinen zwei Türmchen, das eingerahmt von alten Bäumen in der Mitte des Geländes steht. Die Kleinen gehen in benachbarte Schulen oder Kindergärten, die Erwachsenen arbeiten als Handwerker, Ingenieur, Heilpraktikerin, Kindergärtnerin, Verwaltungsangestellte, Gärtner oder Baumpfleger.

Doch weil die Gemeinschaft oft nicht wählerisch war, wen sie einziehen ließ, kam es im Zusammenleben schon ein paar Mal zu Zerwürfnissen: Einmal lebte ein junger Mann ein Jahr lang im Schloss, haderte aber mit der Idee einer solidarischen Gemeinschaft und nervte mit seiner Kritik. Ein anderes Mal kam eine junge Mutter mit drei Kindern aus der Stadt und entdeckte, dass das Leben auf dem Land ohne Führerschein eingeschränkt ist. Bei Georg haben Ärzte später eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert. Er lebt nun in einer betreuten Wohngemeinschaft.

All das hat die Schlosskommune um eine Erkenntnis reicher gemacht: Der verwunschene Ort zieht verrückte Menschen offenbar an – Rumpelstilzchen, Froschkönige, Aschenputtel –, deshalb muss die Gemeinschaft genauer hinsehen, wenn jemand einziehen möchte.

Als Ana Dietrich das Projekt im April 2007 mit ihrem Freund Maik Herrmann ins Leben rief, hatte die zierliche Frau mit den lockigen Haaren einen Traum: „Ich wünschte mir ein Schloss im Wald, mit Wasserquelle, geschenkt.“

Ana Dietrich, sie ist die „gute Seele von Gersdorf“, sagen Freunde, hatte lange für Natur und Umwelt gekämpft und meistens verloren. Gegen den Widerstand ihrer Studentengruppe ließ ihre Geburtsstadt Halle die alten Bäume auf dem Markt fällen. Die Atommülltransporte rollten trotz Protest weiter. Und Flächen mit wildem Grün wurden bedenkenlos Gewerbeansiedlungen geopfert. Sie war das leid. „Ich wollte mein eigenes Stück Land besetzen und einen Ort finden, an dem die Natur und ich so sein durften, wie wir wollten“, erzählt die 36-Jährige.

Auch Maik Herrmann wollte raus aus der Stadt. Für seinen Kampf um sauberes Wasser hatte er sich schon in den achtziger Jahren mit der DDR-Staatsmacht angelegt, die die Stasi auf ihn ansetzte. Diese Erfahrung hat den heute 48-Jährigen geprägt. „Nur ein enges soziales Umfeld kann dich wirklich stützen, wenn du dich für eine bessere Gesellschaft einsetzt“, sagt der Mann, der gern bunte Kleidung trägt – im Alltag und auf Festen. Also gründete das Paar eine Gemeinschaft, die solidarisch und ökologisch miteinander leben wollte.

Eines Tages entdeckten die zwei das leerstehende Schloss nahe Roßwein, fünfzig Kilometer westlich von Dresden gelegen, und wussten sofort: Das ist es. Hier können Menschen leben. Der Park mit seinen hohen Bäumen, die nahe beieinander stehenden Häuser, der viele Platz: „Wer zu diesem Objekt nicht ja sagt, ist für eine Kommunengründung nicht bereit“, entschied er und drängte die anderen zum Einzug. Er brauchte zudem schnell ein Büro und Lagerräume für seine neu gegründete Firma. Öko-Kläranlagen baut er. Im Schloss war Platz, seine Lage günstig. Nach Leipzig, Dresden oder Chemnitz braucht man im Auto jeweils nur eine Stunde.

Die halbe Gründungsgruppe sah das jedoch anders und sprang ab. In den beiden Haupthäusern des früheren Internats gab es weder Strom noch Licht, eine funktionierende Heizung auch nicht. Die Dächer waren marode, die Fundamente feucht. Und zu welchen Bedingungen der Steuerberater aus Bayern, dem das Schloss gehörte, es verkaufen würde, war noch völlig unklar.

Egal: Zusammen mit vier weiteren Kommunarden, seiner schwangeren Freundin Ana und dem gerade ein Jahr alten ersten Sohn des Paares ist er eingezogen. Ana weiß heute nicht mehr, wie sie die Zustände ausgehalten hat.

Weil die junge Kommune viele neue Mitstreiter brauchte, durfte mitmachen, wer kam. Während andere Gemeinschaften neue Bewohner und Bewohnerinnen zunächst nur auf Probe einziehen lassen oder den Kauf von Genossenschaftsanteilen verlangen, reicht es in Gersdorf, beim Plenum vorzusprechen. In den ersten beiden Jahren kommen und gehen die Menschen mitunter im Monatsrhythmus.

Ana, die sich die Kommune als matriarchalen, weiblichen Raum gewünscht hatte, lebt erst einmal als einzige Frau unter Männern. Die wollen nicht über Gefühle reden, meint sie. „Ich hab damals gelernt, loszulassen. Man kann niemandem seinen eigenen Traum überstülpen, sondern nur warten, ob er in Erfüllung geht.“

Der Pionier mit dem Seesack

Und manchmal klappt es. Denn eines Tages wirft Arne Ingwersen seinen Seesack in den Saal und ruft: „Ich zieh ein.“ Der gebürtige Hamburger ist Baumpfleger und von den alten Bäumen im Park begeistert. 44 Jahre alt, hochgewachsen, abenteuerlustig. Er hat als Werbekaufmann und Schiffskapitän gearbeitet und bekommt Lust, den Kauf des Schlosses voranzutreiben. „Ich bin ein Pionier“, sagt er. Neue Sachen aufbauen, das reizt ihn.

Ingwersen sichtet Unterlagen und bringt Ordnung ins ökonomische Chaos. Kurz nach ihm ziehen erstmals mehrere Frauen mit Kindern ein. Die Gemeinschaft wird beständiger, die wöchentlichen Plena im Schloss werden länger. Im Konsens versucht sich die Gemeinschaft auf die juristischen Details des Schlosskaufs zu einigen. Das Projekt soll Teil eines Mietshäusersyndikats werden, das weiteres Land und kleinere Häuser aufkauft, um sie solidarisch zu verwalten, dafür muss eine GmbH gegründet werden. Ana, die lieber in Bildern denkt und fühlt, hadert mit den rechtlichen Feinheiten. „Wir mussten ganz viele Schritte machen, die absolutes Neuland für uns waren. Ich hatte ständig Angst, Fehler zu machen und dafür ins Gefängnis zu kommen.“

Ihre Ängste möchte sie auch dem Plenum mitteilen. Ingwersen fehlt dafür die Geduld. „Es gibt zu viele Dinge, die vernünftig diskutiert werden müssen. Gefühle halten uns auf“, sagt er. Als Kompromiss gründet die Gruppe ein eigenes Plenum für Emotionale.

Ende 2012 gelingt der Kauf. Deutschlands älteste alternative Kommune in Niederkaufungen in Nordhessen gibt den nötigen Kredit dafür. Weil Maik Herrmanns Biokläranlagen-Firma gut läuft, hat die Kooperative eine sichere Einnahmequelle, um Kauf- und Sanierungskosten wieder reinzuholen.

Seit die Kommune das Schloss besitzt, verändert sich etwas: Was früher Traum war, nimmt nun Gestalt an. Ein Schlossladen soll eröffnet werden, eine Klangheilpraxis entsteht, erlebnispädagogische Workshops gibt es. Als Seminar- und Tagungsort hat sich Gersdorf bei sächsischen Politgruppen beinahe von allein etabliert. Daneben sollen eine Gärtnerei und eine kleine Tischlerei entstehen. Kommendes Jahr wird das erste der vier Häuser denkmalgerecht saniert, ein befreundeter Handwerker hat Fördermittel für das Vorhaben beantragt und bewilligt bekommen.

Stoff für Diskussionen gibt es dennoch. Da ist die Balance zwischen antikapitalistischer Utopie und wirtschaftlichen Notwendigkeiten, die gefunden werden muss, zwischen Macherenergie und behutsamer Vorgehensweise, zwischen Vernunft und Gefühl.

* Name geändert