: Die Schönheit des Protests
BEWEGUNG Die chilenischen Studentenaufstände wirken bis in kleine Fischerorte wie Puchuncaví. Das wird auch die Gewinnerin der Präsidentschaftswahl am Sonntag beschäftigen
■ Die Kandidatinnen: Am Sonntag finden in Chile Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt. Für das Mitte-links-Bündnis Nueva Mayoría, die frühere Concertación, tritt die ehemalige Präsidentin und Sozialistin Michelle Bachelet an. Die Kandidatin der rechten Koalition heißt Evelyn Matthei. Bachelet ist die Tochter eines Generals, der in der Militärdiktatur von Augusto Pinochet, die von 1973 bis 1990 dauerte, gefoltert wurde. Matthei ist Tochter eines Generals, der unter Pinochet als Minister diente und die Kriegsakademie der Luftwaffe leitete, auf deren Gelände ein geheimes Gefangenen- und Folterlager eingerichtet war. Sie zählt zum traditionellen Flügel der Rechten, der immer wieder Sympathien für Pinochet erkennen lässt.
■ Die Aussichten: Bachelet gilt als klare Favoritin. Unter dem Druck der Protestbewegung hat sie eine Bildungsreform angekündigt. Davon, eine verfassunggebende Versammlung jenseits des Parlaments einzuberufen, hält sie weniger. Auch einige ehemalige Aktivistinnen und Aktivisten der Studentenbewegung kandidieren bei den Wahlen, darunter die Kommunistin Camila Vallejo. Die Kommunistische Partei ist erstmals Teil des Mitte-links-Bündnisses.
■ Die Kritik: Manche Aktivistinnen kritisieren die Teilnahme an den Wahlen. Auch, weil das in der Diktatur reformierte Wahlsystem und die Quoren im Parlament der Rechten selbst bei einer klaren Niederlage umfassende Mitspracherechte garantieren.
AUS PUCHUNCAVÍ UND SANTIAGO EVA VÖLPEL
Pino ist wieder gekommen. Wie jeden Monat besucht er in Puchuncaví die Witwen der grünen Männer. Wie bei jedem Besuch hat sich der kleine Mann die spärlichen, grauen Haare morgens akkurat über die Glatze gekämmt, sein Sakko angezogen und ist die 150 Kilometer von Chiles Hauptstadt Santiago in die 15.000-Einwohner-Stadt Puchuncaví Richtung Norden gefahren. Um „seine Mädchen“ zu besuchen, wie er sagt. Eliana Morales Infantes, 62 Jahre alt, und Carolina Vega Alvarado, 79 Jahre, deren Männer von der staatlichen Kupferraffinerie vergiftet wurden, ohne dass bis heute jemand Verantwortung dafür übernommen hat.
Pino heißt eigentlich Luis Eduardo Pino Irarrazabal. Aber alle nennen ihn Pino. Er ist der Archivar dieser Toten. Seine schwarze, abgegriffene Aktentasche ist sein stummer Begleiter. Aus ihrem zerbeulten Bauch hat er immer wieder die abgegriffenen Fotografien seiner alten Kollegen gezogen, in Plastik eingeschweißt. Darauf wundes Fleisch und Rücken, die von Ausschlägen und grünen Krusten überzogen sind. „Das kommt von den Schwermetallen, die der Körper ausscheidet“, erklärt er jedem, der die Fotos zum ersten Mal sieht. Deswegen: die grünen Männer von Puchuncaví.
Er hat die Fotos, die Liste mit 181 Toten, die er akkurat führt, den Lokalpolitikern und Abgeordneten in der Hauptstadt vorgelegt. Er hat genervt, bis sie ihn empfingen oder auch nicht. Als Einzelkämpfer. Die Politiker haben die Laborberichte gesehen, die erhöhten Werte von Blei, Arsen oder Quecksilber in Blut und Urin. Und immer irgendetwas versprochen. Passiert ist nichts. 20 Jahre lang.
Doch auf einmal werden 29 Leichen exhumiert. Die Behörden nehmen die Anzeigen Ernst, die einige Witwen gestellt haben. Pino selbst ist vielleicht am meisten überrascht, dass sich etwas tut, obwohl er nur weiter emsig Briefe geschrieben und Laborberichte gehortet hat, um immer weiterzumachen. Ein ewiger Kreislauf einsamen, beharrlichen Protests. Und plötzlich bewegt sich etwas.
Die chilenische Studentenbewegung hat 2011 mit ihren Protesten gegen das privatisierte Bildungssystem das Land aufgerüttelte. Sie tut es immer noch, erst Ende Oktober wieder, als Tausende in Santiago de Chile auf die Straße gingen. Doch um das ganze Ausmaß dieser Veränderung zu spüren, muss man in Kleinstädte wie Puchuncaví fahren.
Oder in den Norden, in die Atacamawüste, wo Anwohner seit Monaten beharrlich gegen zwei neue Projekte zum Goldabbau demonstrieren. Oder in den 3.000 Kilometer entfernten Süden des Landes, nach Patagonien, wo die Einwohner der Hafenstadt Puerto Aysén 2012 wochenlang aufstanden gegen ein neues Fischereigesetz, das die Kleinfischer benachteiligt. Auch sie wollen bessere Schulen, ein besseres Gesundheitssystem.
Die Studenten machen es vor, sagt der alte Aktivist
In den entlegensten Winkeln des schmalen südamerikanischen Landes wächst der Widerstand. Als ob er in zwei Generationen überwintert hat, um auf die dritte überzuspringen.
Auf eine Generation, die nicht in der Diktatur großgeworden ist. Stolz sind viele Ältere auf Chiles Straßen heute auf diese Jugend, auf ihre Schönheit. Nicht auf die offensichtliche der eloquenten Studentensprecherin und Kommunistin Camila Vallejo, die 2011 das Titelbild des Economist schmückte.
Sondern auf die Schönheit der Rebellion dieser Jugend, die die Angst vor Verschwindenlassen und Folter nie selbst erleiden musste. Die sich heute den gepanzerten Fahrzeugen, der militarisierten Polizei entgegenstemmt, als sei sie unverwundbar. Und den Politikern rhetorisch die Stirn bietet, als hätte sie nie etwas anderes getan. Immer noch, immer wieder, auch nach drei Jahren. Und nun, am 17. November, wird Chile eine neue Präsidentin wählen. Favoritin ist die Sozialistin Michelle Bachelet. Doch ob sich unter ihr viel ändern wird, das fragen sich viele.
Auch der Umweltaktivist Ricardo Correa stellt sich diese Frage. Er, der trotz seines Alters irgendwie Teil dieser neuen Jugend ist. Der sich auch für die Menschen in Puchuncaví einsetzt. Aber anders als Pino.
„Früher, da hat mich Protest nicht interessiert, wie auch, es war ja alles tot hier im Land“, sagt er. Correa, 54 Jahre alt, die dicken grauen Haare zum Pferdeschwanz gebunden, das Gesicht zerfurcht, erlebte von 1973 bis 1990 die Militärdiktatur unter Augusto Pinochet, die die Regierung des Sozialisten Salvador Allende wegputschte.
Dann kam 1990 für 20 Jahre das Mitte-links-Bündnis Concertación ans Ruder, das sich mit dem Erbe der Diktatur einzurichten verstand. „Die Chilenen, die auf einen Neuanfang gehofft hatten, sind eines Besseren belehrt worden. Als klar wurde, die Concertación vertieft sogar die neoliberalen Reformen, versank ein Teil der Gesellschaft in einer zweiten Depression“, sagt Correa.
1990 kam Chiles rebellische Jugend gerade auf die Welt. Sie wuchs heran und erlebte zuerst in der Schule, dann in den Universitäten, dass das privatisierte Bildungssystem vor allem eines ist: überteuert, von schlechter Qualität und ohne das echte Versprechen einer besseren Zukunft. So wuchs der Glaube, dass man die Gesellschaft verändern kann. So, wie es schon die Eltern und Großeltern einst geglaubt hatten. Und mit den neuen Medien als Werkzeug, mit einem neuen Verständnis, wie man Bündnisse schmiedet, begannen sie, sich zu organisieren.
Correa, so viel älter er auch ist, ist Teil dieser neuen Protestgeneration. Vor drei Jahren träumte er von einem Seehund. „Da war klar, ich muss in Puchuncaví etwas tun, ich muss die Natur retten, wir müssen uns retten.“ Er lacht mit seiner tiefen Stimme. „Die Studenten haben vorgemacht, wie es geht.“
Während die Mailadresse und das Handy des Archivars Pino nur sporadisch funktionieren, hat Correa eine Internetseite für seine Umweltorganisation Chinchimén eingerichtet. Er bloggt und begleitet die jungen Videoaktivisten, die jetzt häufiger nach Puchuncaví finden. Er schließt Bündnisse. „Denn Puchuncaví, das sind nicht nur die alten Männer der Kupferraffinerie, die sie geopfert haben. Sie haben den ganzen Ort für ihr Entwicklungsmodell verkauft.“
Die meisten in Puchuncaví hatten sich damit abgefunden. Dann kam der 23. März 2011. In der Grundschule La Greda erbrachen sich etliche Kinder, Lehrerinnen fielen in Ohnmacht. Die Nachricht, dass mal wieder eine Giftwolke aus hochkonzentriertem Schwefeldioxid aus der Kupferraffinerie über die nur 500 Meter entfernte Schule gezogen war, blieb dieses Mal nicht in der lokalen Presse stecken. „Durch die Onlinemedien ging es herum“, sagt Ricardo Correa. „Es war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.“
Der Weg nach Puchuncaví führt aus der Hauptstadt Santiago über die privatisierte Autobahn gen Norden. Irgendwann schlängelt sich eine Landstraße zur Küste, rechts und links niedrige Vegetation. Dann liegt Puchuncaví am Horizont, dahinter glitzert der Pazifik. „Puchun Cahuín“ hieß dieser Landstrich bei den indigenen Mapuche, „der Ort der vielen Feiern“. Wegen der traditionellen Feste, die sie hier einst abhielten.
Die Tage Puchun Cahuíns sind lange vorbei. Heute können sich nur noch die Alten an Obstplantagen und Gemüse auf den Feldern erinnern. Und daran, dass es irgendwann verdorrte, bedeckt von grauem oder gelbem Staub. Das Vieh verendete. Angebaut wird hier nichts mehr, auch wenn die sichtbaren Rückstände auf den Pflanzen weniger geworden sind. Stattdessen donnern alle paar Minuten Trucks die schmale Landstraße hinunter. Sie wirbeln Luft auf, die nach Schwefel und Metall riecht.
Ein Stellungskrieg: Häuschen gegen Schlote
Die Trucks transportieren die Kohle zur Küste, Tag und Nacht, für die Kraftwerke, die die US-Firma AES Gener hier ans Meer gepflanzt hat. „Getreu dem Motto: wo schon was ist, stört mehr auch nicht“, sagt Correa. Das vierte Kraftwerk ist vor Kurzem in Betrieb gegangen.
In Puchuncaví und rund um die Bucht der Nachbarkommune Quintero hat sich die Industrie wie ein Geschwür ausgebreitet. Zuerst kam 1960 die staatliche Kupferraffinerie. Sie brachte Wohlstand und Arbeit in einer Zeit, als niemand nach Emissionen und Schwermetallen fragte.
Dann kamen die Kohlekraftwerke, der Verladehafen für Rohöl, Kupfer, Butan und Propanol, Speicher für Methanol und Styrol, die Zementfabrik, die zur Herstellung von Schmiermitteln und die riesigen Erdgastanks. Es ist ein Stellungskrieg: hinter den bescheidenen, bunt gestrichenen Häuschen Puchuncavís ragen nur wenige Meter entfernt die Industrieschlote, Kuppeln und Hallen der Industrie auf. Ihre Förder- und Beladebänder recken sich wie Wurmfortsätze ins Meer.
Heute ist der Ort ein einziger kontaminierter Landstrich. Die Kleinfischer, die seit Generationen ein bescheidenes, aber auskömmliches Leben hatten, dürfen seit Jahren nichts mehr aus dem Meer holen, weil Fische und Meeresfrüchte mit Arsen, Cadmium und Quecksilber vergiftet sind. Stattdessen zahlt ihnen AES Gener ab und zu Geld, damit sie den Strand säubern. Der Arzt des Ortes erzählt, dass die Krebsrate in einigen Vierteln der Stadt deutlich höher sei als in anderen Regionen. Manchen könne er nur noch beim Sterben helfen.
So wie den Männern von Eliana Morales Infantes und Carolina Vega Alvarado, die Pino immer wieder besucht. Die Witwen der grünen Männer erwarten ihn in einem kleinen, gelben Häuschen mit einer deftigen cazuela, einem Eintopf aus Hühnerfleisch und Gemüse. Im Wohnzimmer von Carolina Vega Alvarado hängt eine Uhr aus Kupfer, daneben eine Urkunde, auch die aus Kupfer. Die Raffinerie dankt für die gute Arbeit ihres Mannes Clemente Aguilera Romero. Für die Arbeit, die ihn umgebracht hat.
„Wenige Monate nach dem Ruhestand wurde mein Mann immer müder. Er hat an den Öfen der Raffinerie gearbeitet, oft ohne Schutzkleidung, die Arbeiter haben sogar neben den Öfen gefrühstückt. Niemand hat sie gewarnt“, sagt Carolina Vega Alvarado. Die Schwermetalle hätten ihn innerlich zersetzt, erzählt die kleine, zarte Frau mit der runden Brille. „Wenn ich ihm die Windeln gewechselt habe, sah es aus wie Hackfleisch. Er hat sich in den Exkrementen selbst ausgeschieden. Ich habe mich geschämt, die Bettlaken draußen aufzuhängen, die waren selbst nach dem Waschen ganz grün und gelb, von dem, was sein Körper da ausstieß.“
Pino sitzt da und nickt. Er hat diese Geschichte oft gehört. Er ist der Kümmerer, er verkörpert die Hoffnung von Eliana und Carolina auf Gerechtigkeit. Er hat mit etwa 100 ehemaligen Kupferarbeitern und Angehörigen einen Verein gegründet. Sie sind vor Gericht gezogen gegen den staatlichen Kupferkonzern Codelco, der früher Enami hieß.
Wenn die zwei Frauen der Mut verlässt, wird Pino immer energischer. „Wir dürfen nicht nachlassen, wir haben Etappen gewonnen, die Exhumierungen finden statt.“ Der kleine Mann muntert auf, er tröstet.
Fragt man ihn, warum gerade jetzt die Dinge in Bewegung geraten, sagt er: „Weil das Land sich verändert hat, mit den Studenten.“ Und er sagt: „Wir Kupferarbeiter haben ein Recht auf Entschädigung. Uns haben sie im Stich gelassen.“
Pino ist sich sicher, Camilo Escalona, sozialistischer Parlamentsabgeordneter, bis März 2013 Senatspräsident, wolle jetzt helfen, auch die rechte Abgeordnete Andrea Molina von der Regierungskoalition.
Wenn Ökoaktivist Correa das hört, lächelt er. Er schätzt Pino. Aber er kritisiert die naive Hoffnung auf die Politiker. Und dass die Kupferarbeiter für sich allein kämpften. „Dabei geht es hier um alle. Nur gemeinsam erreichen wir etwas.“
Es ist die Quintessenz des Erfolgs der Studentenbewegung. Bevor sie ihre ersten Demonstrationen begannen, zu denen später immer wieder bis zu einer Million Menschen kamen, Jung und Alt, haben die Jugendlichen über den Tellerrand geschaut. Sie reisten 2010 in die vom schweren Erdbeben verwüsteten Regionen, um mit der Bevölkerung wieder aufzubauen, wofür sich die Regierung Zeit ließ.
Als die Proteste dann losgingen, zeigte Chiles Jugend, wie dieses privatisierte Bildungssystem so viele Familien in den finanziellen Ruin treibt. Und dass sich der Raub auch auf das private Renten- und Gesundheitssystem, auf das Wasser und die reichhaltigen Kupfervorkommen des Landes erstreckt. Die Jungen haben sich vernetzt, mit Beschäftigten des Gesundheitssektors, Umweltgruppen, Gewerkschaftern und Fischern, mit Professoren, Lehrern und den Mapuche. Mit den Nachbarn, den Eltern, die auch protestieren.
Sie wollen das Erbe der Diktatur jetzt loswerden
Vor allem haben sie nicht auf die Politiker vertraut, auch dann nicht, als die sich vorsichtig bewegten und Erziehungsminister zurücktreten mussten. Stattdessen haben sie mit Wissenschaftlern Alternativen erarbeitet: Konzepte für eine Steuer- und Bildungsreform, für die Verstaatlichung des Kupfers, die die Politiker unter Druck setzen. Im ganzen Land haben Menschen sich in Nachbarschaftskomitees selbst organisiert.
„Diese Jugend weiß genau, dass das politische System und die Verfassung delegitimiert sind, alles stammt noch aus der Diktatur“, sagt Correa. Während Pino auf die Politiker hofft, hat sich Correa anstecken lassen vom Virus, auf die eigene Kraft zu vertrauen und den Autoritäten nicht mehr zu gehorchen. Heute entert er die Kohlefriedhöfe eben auf Schleichwegen, wenn ihn der Wachmann nicht vorbeilässt.
Die cementerios de cenizas sind riesige Halden mit feinster verbrannter Asche aus den Kraftwerken, die sich um Puchuncaví und bis in das Feuchtbiotop an der Küste ausbreiten. Mittlerweile schüttet AES Gener das Zeug nicht mehr so offensichtlich in die Landschaft, sondern hat ein mehrere Hektar großes Gelände im hügeligen Hinterland gepachtet.
Dort kippen Trucks regelmäßig frischen Kohlestaub ab. Durch sein Fernglas kann Correa dann oft beobachten, wie einzelne Arbeiter, nur ein T-Shirt vors Gesicht gebunden, den Staub mit Wasser besprengen.
„In Puchuncaví sieht man, wie egal es ist, welche Partei am Ruder ist“, sagt Correa. Erst hätten die Regierungen seit 1960 und die Diktatur ab 1973 ohne Schutz für die Menschen das Kupferunternehmen betrieben. Dann hätten das Mitte-links-Bündnis Concertación und die Lokalpolitiker den Industriepark in Demokratiezeiten ab 1990 ein um das andere Mal erweitert. Und den Bau des vierten Kohlekraftwerks von AES Gener 2009 ermöglicht, obwohl der oberste Gerichtshof es aus umwelt- und bodenrechtlichen Fragen untersagt hatte.
Das beweisen Wikileaks-Kabel, die das chilenische Portal für investigativen Journalismus CiperChile veröffentlicht hat. Sie zeigen, dass die Regierung der USA nach dem Richterspruch die chilenische Regierung unter Druck setzte. Schließlich änderte die Koalition unter der Sozialistin Michelle Bachelet, die Chile schon einmal von 2006 bis 2010 regierte und am Sonntag wieder zu den Wahlen antritt, einen Tag vor Ablauf der Amtszeit das Bodenrecht. Das vierte Kraftwerk konnte gebaut werden. Bachelets Parteikollege, der Sozialist Camilo Escalona, auf den Pino so vertraut, äußert sich dazu nicht.
Aber Andrea Molina hat etwas zu sagen. Das einstige Model, heute Abgeordnete für die rechte Regierungskoalition unter Präsident Sebastián Piñera, erscheint zu spät zum Termin. Die Vorsitzende der Umweltkommission des Kongresses zückt erst einmal ihren Schminkkoffer, fährt sich die Lippen nach, kontrolliert die Wimperntusche. Molina ist das hübsche Gesicht der so in Ungnade gefallenen rechten Regierung, gegen die die Protestbewegung seit 2011 anrennt. Weiß, schlank, eloquent, mit dunkelblonden, perfekt frisierten Haaren. Ihr Habitus lässt keinen Zweifel, woher sie stammt: aus der extrem wirtschaftsliberalen, kleinen und satten Oberschicht des Landes.
„Ja, die Menschen in Puchuncaví sind für den Fortschritt geopfert worden. Von allen Regierungen. Und sie sind zu Recht enttäuscht. Aber unsere Regierung ist die erste, die etwas für sie tut.“ Molina erzählt von neuen Filtern, neuen Untersuchungen, neuen Gesetzen. Aber sie muss auch zugeben, dass es keinen Plan für eine Dekontaminierung gibt, obwohl vermutlich in großen Teilen von Puchuncaví die Erde abgetragen werden müsste. Sie betont zwar, die Emissionen seien gesunken. Aber längst nicht ausreichend, wenden Kritiker ein. Und wer die Fischer entschädigen soll, ist außerdem völlig unklar.
Ginge es nach Molina, könnte sich in Puchuncaví keine neue Industrie mehr ansiedeln. Aber derzeit existieren Pläne, die Kupferraffinerie zu vergrößern. Wenn das Aufnahmegerät aus ist, sagt der lokale Abgesandte des Umweltministeriums der Region Valparaíso, es klinge zwar hart, aber nicht alle könnten vor Verschmutzungen geschützt werden. Und dass der Staat Schuld trage an der Situation, dafür fehle es an Beweisen.
Wie bei Pino und seinen Witwen. Also wird er weitermachen. Jetzt, wo die Dinge in Bewegung gekommen sind, erst recht. Es ist ein erster kleiner Lohn für jahrelange, beharrliche Arbeit.
Auch Correa wird weitermachen. „Aber man muss seine Strategien anpassen, wenn es nötig ist.“ So, wie die Bewegung in Chile. Seit einiger Zeit hat sie die Forderung nach einer verfassunggebenden Versammlung in das Land getragen. Das wäre vorher undenkbar gewesen.
„So eine Verfassung, die geben uns nicht die Politiker im Parlament. Die diskutiert die Bevölkerung in einer neu gewählten Versammlung, so, wie es andere Länder Lateinamerikas vorgemacht haben“, sagt Correa. Zumindest hofft er es. So, wie er auch hofft, dass sich die Bewegung nicht durch eine neue Regierung unter der sozialistischen Präsidentin Michelle Bachelet vereinnahmen lässt.
■ Eva Völpel, 37, ist stellvertretende Leiterin des taz-Inlandsressorts