: Start im Schlauchboot
Zwei Tage vor dem ersten Kick gibt’s spektakuläres Massengefiedel und Fußballschnulzen. Richtiges Bier wird nur außerhalb ausgeschenkt, und nur auf dem Fanfest kriegt man alle Münchener Marken
von RÜDIGER KIND
Wenn Franz Beckenbauer, Münchens Fußball-Stadtheiliger, einen besonders schwachen Kick charakterisieren will, greift er zu einer seiner Lieblingsfloskeln: „Das ist wie Obergiesing gegen Untergiesing.“ Daraus spricht natürlich die Arroganz des weltgewandten Handelsreisenden in Sachen Fußball, der der kleinbürgerlich-proletarischen Enge seiner Jugendjahre entkommen ist und heute sein Kitzbüheler Alpendomizil nur noch verlässt, um die Luxushotels und Golf-Resorts dieser Welt mit seiner Anwesenheit zu beglücken. Aber es waren die Bolzplätze Giesings, auf denen der „Kaiser“ seine legendären Ballfertigkeiten entwickelte, die den heutigen „Rumpelfußlern“ (Beckenbauer) leider abgehen.
Dank Franz und seinem Verein, dem FC Bayern München, sieht sich München selbst nicht ganz zu Unrecht als Hauptstadt des deutschen Fußballs. Der FC Bayern ist mit Abstand der erfolgreichste Verein Deutschlands, für die Meisterschaft hat er fast ein Abonnement, und in den internationalen Wettbewerben ist er immer dabei. Auch wenn er in der Champions League zuletzt vom AC Milan deutlich die Grenzen aufgezeigt bekommen hat, sind die Bayern im internationalen Geschäft das Aushängeschild der Bundesliga. In der Stadt selbst ist von Fußballbegeisterung allerdings wenig zu spüren. Die Meisterschaftsfeiern auf dem Marienplatz sind Routineveranstaltungen, bei denen die Spieler in den Lederhosen, die ihnen mal wieder kein Liga-Konkurrent ausziehen konnte, dem Fanvolk vom Rathausbalkon aus zuwinken und riesige Weißbiergläser leeren.
Für mehr Aufregung, allerdings nicht in sportlicher Hinsicht, sorgt zurzeit der TSV 1860 München. Noch wehren sich die einstmals ruhmreichen „Löwen“ vom TSV gegen die Fußball-Alleinherrschaft der Bayern. Dabei befinden sie sich momentan im sportlichen und finanziellen freien Fall, den sie sich aber selbst zuzuschreiben haben. Den desolaten Zustand haben die Löwen dem Größenwahn des ehemaligen Präsidenten Karl-Heinz Wildmoser zu verdanken. Dessen Plan sah vor, den Verein zu einer Art „Bayern light“ zu machen. Schon der Umzug vom alten 60er-Stadion an der Grünwalderstraße ins Olympiastadion führte zu heftigen Protesten der echten Löwen-Fans.
Ohne Not opferte Wildmoser einen guten Teil der Löwen-Identität und ließ im selben Stadion spielen wie der Erzfeind Bayern. Der nächste und wohl verhängnisvollere Schritt ins Verderben war die Beteiligung am Bau der neuen Fußballarena in Fröttmaning im Münchner Norden – gemeinsam mit den Bayern wurde die Allianz-Arena gebaut, die von Spöttern schon „Arroganz-Arena“ oder „Schlauchboot“ genannt wird . Und 1860 stieg ab, der groß ankündigte Wiederaufstieg ist in weite Ferne gerückt – heute ist man froh, wenn man wenigstens in der 2. Liga bleibt.
Aber mit den Einnahmen aus der 2. Bundesliga ist die Finanzierung des Stadions offenbar kaum zu bewältigen. Deshalb rollen bei den „Sechzgern“ momentan die Köpfe. Nur wenn sie sich endgültig aus dem Spezlwirtschaft-Sumpf der Ära Wildmoser befreien können, haben sie eine Zukunft als zweiter Bundesligaverein Münchens.
Da haben es die Bayern besser gemacht: ihr Modell, die Vereinsführung ehemaligen Spitzenspielern zu übertragen, funktioniert effektiv und hoch professionell. Über Hoeneß und Rummenigge, die sich um das Tagesgeschäft kümmern, thront Kaiser Franz, der mit seinen zeitlos-philosophischen Anmerkungen längst zur Lichtgestalt des deutschen Fußballs aufgestiegen ist. Die WM hat er quasi im Alleingang nach Deutschland geholt und der Stadt München die Ausrichtung des Eröffnungsspiels gegen Costa Rica am 9. Juni gesichert.
Fußballfans, die keine Karten für die sechs in München ausgetragenen Spiele bekommen konnten, sollten unbedingt in den Olympiapark fahren. Dort findet der wichtigste „B-Event“ statt, das „Fan-Fest der Fifa WM“. Neben vielen Konzerten und Veranstaltungen gibt es dort kostenfreies Public Viewing von 56 WM-Spielen, die auf einer 60 Quadratmeter großen Videoleinwand, aufgestellt im Olympiasee, zu sehen sind. Das wunderschöne Gelände, das für die Olympischen Spiele 1972 angelegt wurde, ist bei schönem Wetter auch ein idealer Platz für ein Picknick oder einen Biergartenbesuch. Statt wie im Fröttmaninger WM-Stadion, wo nur das Bier von Fifa-Sponsor Anheuser-Busch ausgeschenkt wird, gibt es beim Fan-Fest alle sechs Münchner Biermarken. Auf keinen Fall versäumen sollte man einen Besuch des grandiosen Olympiastadions, in dem 1974 Deutschland gegen die Niederlande den WM-Titel holte.
Nachdem die André-Heller-Eröffnungsfeier in Berlin von der Fifa abgesagt wurde, kommt München jetzt unverhofft zur Ehre des eigentlichen Openingfestes. Das muss, in der Diktion des Superlativ-versessenen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, natürlich mindestens ein „Weltereignis“ werden, „die Kulturouvertüre“ zur WM. Titel der Megaveranstaltung: „3 Orchester und Stars“. Drei Tage vor dem Eröffnungsspiel werden die drei weltbekannten Dirigenten Zubin Mehta (Bayerisches Staatsorchester), Christion Thielemann (Münchner Philharmoniker) und Mariss Jansons (Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks) am 6. Juni ihre Orchester bei einem weltweit einmaligen Konzert im Olympiastadion leiten. Placido Domingo wird zusammen mit Diana Damrau singen, ein chinesischer Wunderpianist wird Gershwins „Rhapsody in Blue“ spielen.
Wer für eine Eintrittskarte zu dem spektakulären Massengefiedel mit mehr als 400 Mitwirkenden bis zu 124 Euro ausgeben will, bekommt auch noch ein von allen Orchestern und Solisten zusammen gespieltes und gesungenes Medley einschlägiger Titel wie „You’ll never walk alone“ bis „We are the champions“ geboten. Wer’s mag …
Einen Tag vor dem Eröffnungsspiel wird die Stimmung in der Stadt dann lateinamerikanisch aufgeheizt: 200 brasilianische Sambatänzerinnen wollen die Leopoldstraße in ein „Sambadrom“ verwandeln. Ebenfalls am 8. Juni findet im Olympiastadion ein Konzert mit dem brasilianischen Musiker und Kultusminister Gilberto Gil statt, zu dem vielleicht Weltfußballer Pelé kommen wird.
Man sieht: Es wird genügend geboten sein in München. Wem es aber inmitten all der Samba-Trommeln, der symphonischen Massenarien oder der bis zu 20.000 Fan-Fest-Besuchern irgendwann mal zu viel wird, wer die Innenstadt mit ihren Luxusboutiquen, Flagship-Stores und Busladungen voller Hofbräuhaus-Touristen auch nicht mehr sehen mag, der sollte vielleicht in ein Stadtviertel flüchten, in dem er von all der Fifa-WM-Hysterie garantiert nicht belästigt wird. Nach Obergiesing. Oder Untergiesing.