: Es spricht DJ Spinoza
SCHRIFTEN ZU ZEITSCHRIFTEN Das „Schreibheft“ und die „Akzente“ kombinieren russische Prosa mit Pop
Niemand kann Clarice Lispector lesen, ohne sich in sie zu verlieben, hat einmal jemand über die brasilianische Schriftstellerin gesagt. Und dass sie aussehe wie Marlene Dietrich und schreibe wie Virginia Woolf. Ungerührt blickt die Autorin vom Titelblatt des aktuellen Schreibhefts. Sie sieht wirklich elegant aus.
Es ist also eine Ehre, wenn sie schreibt: „Ich bin ihr alle.“ Geboren ist Clarice Lispector 1920 als Chaya in der Ukraine, die Familie war gerade auf der Flucht vor der Hungersnot und antisemitischen Pogromen. In Brasilien fanden die Lispectors eine neue Heimat und änderten ihre hebräischen Vornamen in portugiesische. Als wäre das nicht schon international genug, heiratete die Autorin einen Diplomaten und lebte mit ihm in Europa und den USA.
Bevor sie 1973 wegen ihrer jüdischen Herkunft aus der Redaktion des Jornal do Brasil gefeuert wurde, schrieb sie regelmäßig Kolumnen, von denen einige nun im Schreibheft erstmals auf Deutsch erscheinen. Es geht um alles Mögliche: um Karneval und Kakerlaken, Männer und das Meer. Politisch wird es, wenn Lispector über die künstliche Stadt Brasília und die „Brasiliárier“ schreibt. In dem kurzen Text entwirft sie glitzernde, blonde, aber blinde Menschen und den totalitären Staat, für den diese Stadt konstruiert scheint. „Die Hölle versteht mich besser.“ Anstelle von Schönheit haben die Architekten Entsetzen erbaut, so schreibt sie, und das Entsetzen ließen sie unerklärt.
Clarice Lispector haut einen um. Allein ihretwegen lohnt sich der Blick in das Schreibheft, doch auch die Erinnerungen von Tomas Venclova an russische Schriftsteller sind lesenswert.
Jüdische Erfahrungen
Aber zurück zu denen, die einen umhauen. Außer Clarice Lispector wäre da nämlich noch Eugene Ostashevsky. Seine Familie floh 1979 aus Russland nach New York, in seinen Texten kombiniert er die jüdische Erfahrung mit amerikanischem Pop. Das klingt wie folgt: „So sprach der Herr zu DJ Spinoza: / Verschwinde aus deinem Land! / Und DJ Spinoza sprach zu dem Herrn: Welches Land meinst du jetzt genau, Herr? / Und der Herr sprach zu DJ Spinoza: / Gut gesagt, gut gesagt, denn ich werde Dich verloren machen unter den Völkern.“ Und als DJ Spinoza antwortet, dass er sich sowieso selbst nicht mehr finde, rät ihm der Herr zu einem Therapeuten.
Es bietet sich an, das Schreibheft mit einer Lektüre der Akzente zu kombinieren. Die aktuelle Ausgabe druckt Prosatexte von Carlos Drummond de Andrade, die wie die Artikel von Lispector noch nie auf Deutsch erschienen sind. Der Brasilianer flog wegen „geistiger Nichtunterordnung“ von der Schule, nach seinen Texten versteht man, warum. Immerhin beißt sein Protagonist den Damen beim Handkuss in die Finger.
Eine Überdosis Literatur
In der letzten Akzente tauchten außerdem viele russische Autoren auf, die auch im Schreibheft eine Rolle spielen, so zum Beispiel Aleksandr Vvedenskij, Daniil Charms oder Joseph Brodsky. Die Akzente sind so etwas wie das ideale Heft für Leute, die nicht nur eine Überdosis an literarischem Input brauchen (dafür gibt es die extrem anspielungsreichen, metapoetischen Gedichte von Alexander Skidan), sondern gleichzeitig umweltbewusst denken: Das Inhaltsverzeichnis ist auf die Rückseite des Titelblatts gedruckt, und noch auf der letzten Umschlaginnenseite findet der Leser Aphorismen. Zum Beispiel Ernst Jüngers Notizen zu Rio, der „Residenz des Weltgeistes“. Oder das Bekenntnis von Jules Renard, nichts zu lesen, aus Furcht, etwas gut zu finden.
Der Akzente-Leser sollte also möglichst unerschrocken sein. Weil er bestimmt etwas gut findet. Spätestens, wenn er Saul Tschernichowski liest. Biografisch führt Tschernichowski die Reihe der hier erwähnten Autoren an. Vor allen anderen kommt er in Odessa zur Welt und lebt in Heidelberg, Lausanne und Berlin, bevor es ihm 1932 gelingt, nach Palästina zu emigrieren. An seinen „Idyllen“ sind nur die Anfänge idyllisch: Beschwingt siebt Gitel das Mehl – bis sie erfährt, dass ihre Enkelin im Gefängnis sitzt. Auf einmal vermischt sich der Mehlstaub mit Erinnerungen. Und mit Angst.
Die Furcht vor guter Literatur ist ironisch, die Angst vor totalitären Systemen ist es nicht. Umso bewundernswerter erscheint die Unerschrockenheit von Clarice Lispector, wenn sie versucht, ihrem Brasília-Unbehagen auf die Spur zu kommen: „Die Angst hat mich immer zu dem geführt, was mir am Herzen liegt; und weil ich liebe, fürchte ich.“
CATARINA VON WEDEMEYER
■ Schreibheft Nr. 81, 13 Euro
■ Akzente, Heft 4 und 5/2013, 7,50 Euro