„Akupunktur ist meine Handkunst“

Yanping Wu

„Durch die Kulturrevolution habe ich gelernt, mit der eigenen Arbeit das Brot zu verdienen. Außerdem verstehe ich, wenn jemand zu mir kommt und sagt: Ich habe Schmerzen. Da werde ich ganz weich“„In Berlin jammert man gern und viel. Es ist eine Form, miteinander in Kontakt zu treten. Wenn man in Gemeinschaft jammert, reguliert man die Chemie untereinander. Es entsteht eine Jammerharmonie“

Im Mai vor 40 Jahren begann die chinesische Kulturrevolution. Die damals zehnjährige Yanping Wu, deren Eltern zur wissenschaftlichen Elite Chinas gehörten, war unmittelbar betroffen. Sie musste als Kind schwere Arbeit leisten. „Die Hände schmutzig, aber der Geist sauber“, war die staatliche Parole. Erst nach Maos Tod 1976 konnte sie Ärztin werden. 1988 kam sie nach Berlin. Hier gründete sie 1991 als erste Chinesin eine Praxis für chinesische Medizin sowie eine anerkannte Akupunkturakademie. Dort lehrt sie ihre „Handkunst“. Vor kurzem verfasste sie ein Buch über chinesische Ernährungslehre.

INTERVIEW WALTRAUD SCHWAB

taz: Frau Wu, hat ihr Name eine Bedeutung?

Yanping Wu: Yanping heißt Frühlingsschwalbe. Ich bin Mitte der 50er-Jahre geboren, da war endlich Frieden in China. Wu, das hat was mit Kämpfen zu tun. So wie mein Name geschrieben ist, kommt er nicht oft vor. Er geht auf die einzige Kaiserin in China zurück, die es während der Tang-Dynastie gab. Das heißt nicht, dass ich von ihr abstamme.

Trotzdem haben Sie eine lange Familientradition, erlebten später die chinesische Kulturrevolution hautnah mit und landeten in den 90er-Jahren in der Claudiusstraße in Tiergarten – wie passt das zusammen?

Es muss nicht passen. Die Kulturrevolution war in meiner Kinderzeit in China. Jetzt ist meine Erwachsenenzeit in der Claudiusstraße. Während der Kulturrevolution hatte ich mehr Angst. Jetzt habe ich keine Angst, obwohl ich chinesische Berlinerin bin.

Warum hatten Sie Angst?

Als die Kulturrevolution begann, war ich zehn Jahre alt. Plötzlich war alles durcheinander. Durch die Kulturrevolution habe ich in China viel Falsches gesehen.

Was?

Ärzte, Lehrer, gute Leute wurden damals zu schlechter Arbeit gezwungen. Und Leute, die das nicht richtig gelernt hatten, wurden zu Ärzten, Lehrern, Ingenieuren gemacht. Jeder konnte heute groß sein, aber morgen ein Niemand. Das Messer wird von hinten in den Rücken gestochen. So haben wir unser Vertrauen verloren. Wir haben Schläge aufs Herz bekommen. Davon haben wir Narben.

Wir? Gehören Sie zur Generation Kulturrevolution?

Ich glaube, viele Leute, die zwischen 1945 und 1960 geboren sind, haben solche Erlebnisse wie ich. Wir konnten schon denken, aber wir waren in unserer Entwicklung beeinflussbar.

Kam die Kulturrevolution von einem Tag auf den anderen in Ihr Leben?

Fast. Vor der Kulturrevolution ging ich zur Schule. Plötzlich gab es keine Schulen mehr. Vorher war der Schuldirektor für uns eine große Person. Plötzlich war er ein Nichts. Wir haben nichts kapiert. Aber so war es. Wir mussten ihn beschimpfen: Du bist Dreck.

Sie mussten ihn beschimpfen?

Alle Schulkinder mussten das tun. Es ist überall dort passiert, wo es um Kultur ging: in den Schulen, den Universitäten, den Museen, den Krankenhäusern. Alle Stellen, die mit Wissenschaft zu tun hatten, haben Pech gehabt. Ich komme aus einer Wissenschaftlerfamilie. Deshalb haben wir Pech gehabt. Deshalb habe ich eine bittere Kinderzeit. Ich komme aus einer guten Familie. Aber während der Kulturrevolution musste ich Steine schleppen, um zu essen. Ich habe viel gesehen und ich bin knallhart geworden.

Was heißt knallhart?

Stark. Ich weine nicht, egal, was passiert. Ich kann viel aushalten.

Hat Sie niemand unterstützt?

Leute haben mir manchmal heimlich geholfen. Was hätte ein kleines Mädchen auf der Straße sonst machen können? Sie sorgten dafür, dass ich später in einem Krankenhaus arbeiten konnte. Da war ich zwölf. Im Krankenhaus war ich geschützter. Ich habe alle niedrigen Arbeiten gemacht. Geputzt, die Patienten gewaschen. Auch die Toten sauber gemacht. Ich hab nicht gemurrt.

Und die zwei Jahre davor?

Da musste ich auf dem Feld arbeiten, und auch in einer Fabrik. Wir hatten kein Haus mehr. Ich bin zu meinem Bruder, der war 13 und auch schon auf dem Land. In den zwei Jahren bis zum Krankenhaus war ich eine Goung-Nung-Bing. Ein paar Monate in der Fabrik ist Goung, ein paar Monate auf dem Feld ist Nung und ein paar Monate militärischer Drill ist Bing. Das war unsere Schulbildung.

Später konnten Sie doch studieren. Wie kam das?

Das war, weil meine Eltern nach Maos Tod 1976 rehabilitiert wurden. Man hat gesagt: Entschuldigung, Sie sind gute Menschen. Da war für mich nach vielen Jahren plötzlich auch wieder alles anders. Im Krankenhaus bin ich gleich befördert worden zur Oberschwester.

Hatte die Kulturrevolution nicht etwas Gutes, indem sie Ihnen bei der berufliche Orientierung half? Sie wollten Ärztin werden.

Ich bin in der Zeit auch als Mensch gereift und gewachsen. Ich war kein Kind mehr. Ohne die Kulturrevolution wäre ich eine ganze andere Person. Wie eine Prinzessin. Ich hätte alles. Mit der Kulturrevolution habe ich gelernt, mit der eigenen Arbeit das Brot zu verdienen. Außerdem verstehe ich, wenn jemand zu mir kommt und sagt: Ich habe Schmerzen. Da werde ich ganz weich. Auch wenn der Kranke sagt: Ich habe Schmerzen, aber ich habe kein Geld. Ich würde niemanden wegschicken.

Wie verträgt sich das mit der knallharten Seite?

Die harte Seite ist für mich, die weiche für andere. Ich kann mit ganz wenig leben. Morgens einen Cappuccino und ein Brötchen, ohne was dazwischen. Verschwendung kann ich nicht leiden.

Wie sind Sie Ärztin geworden?

Nachdem meine Eltern wieder zu Hause waren, hatte ich plötzlich Chancen. Nicht jeder durfte zur Uni gehen, die 1977 wieder eröffnet wurden. Nur fünf Personen von unserem Krankenhaus konnten die Aufnahmeprüfung machen. Sie war, denke ich, nicht so schwer. Wir hatten ja keine richtige Schulbildung durch die Kulturrevolution.

Sie haben dann fünf Jahre lang westliche Schulmedizin studiert.

Ja. Aber meine Eltern haben gesagt, wenn du später mal ins Ausland gehst, dann ist es von Vorteil, wenn du außerdem chinesische Medizin kannst. Nach meiner Approbation habe ich noch drei Jahre chinesische Akupunktur studiert.

Hatten Sie bei Ihrer Arbeit im Krankenhaus vorher schon Kontakt mit chinesischer Medizin?

Sicher. Ich hatte ja viel gesehen. Außerdem war Penicillin etwas sehr Wertvolles für uns. Das hatten wir nicht immer. Wir mussten andere Wege finden, den Menschen zu helfen. Schulmedizin und chinesische Medizin ergänzen sich. Mit einem Bein kannst du nur springen. Mit zwei Beinen kannst du laufen, sagt ein chinesisches Sprichwort. Ich arbeitete ab dann als Fachärztin in der Akupunkturabteilung an der Universitätsklinik in Nanjing. Ich hatte einen guten Job.

Trotzdem sind Sie ins Ausland.

Meine Eltern wollten, dass ich und mein Bruder ins Ausland gehen. Sie sagten: Ihr sollt in Freiheit leben. Geht in ein Land, wo es Demokratie, Menschenrechte, Redefreiheit gibt.

Wann kamen Sie nach Berlin?

Das war 1988. Ich bin jetzt 17 Jahre hier. Als ich nach Deutschland kam, hatte ich Schwierigkeiten mit der Sprache. Da habe ich wieder geputzt und in der Fabrik gearbeitet, aber ich hatte keine Probleme, als Ärztin zu putzen. Das habe ich in der Kulturrevolution gelernt.

Sie sind nicht lange Putzfrau geblieben.

Ich habe dann Akupunkturkurse an der Universität gegeben. Das ist meine Handkunst. Akupunkteure müssen jeden Tag Nadeln legen. Wie ein Boxer, der jeden Tag boxen, ein Sänger, der jeden Tag singen muss. Ich brauche nicht viel für meine Handkunst, nur meine Nadeln und meine Erfahrung. Mit chinesischer Medizin bin ich unabhängig.

Ihren Job an der Universität hatten Sie vor der Maueröffnung?

Ja. Nach der Maueröffnung hatte die Universität bald kein Geld mehr für mein Honorar, obwohl das nur 800 Mark waren. Trotzdem, ich bin mit der Wende mit Berlin zusammengewachsen. Ich mag diese Stadt. Sie ist international. Die Leute sind offen.

Bereits 1991 haben Sie Ihre Praxis für chinesische Medizin eröffnet.

Damals ist das öffentliche Interesse an chinesischer Medizin gewachsen. Deshalb bekam ich die Chance, eine Praxis zu eröffnen – obwohl ich nicht nur Sprachprobleme hatte, sondern, wie alle Ausländer, mich um Aufenthaltserlaubnis, Arbeitserlaubnis, Berufserlaubnis schwer kümmern musste.

Warum ist Akupunktur so wichtig in der chinesischen Medizin?

Es ist eine Behandlungsmethode der chinesischen Medizin. Sie bezieht sich direkt auf die Körperkanäle, die Meridiane. Diese sind die Grundlage der chinesischen Medizin wie die Anatomie in der Schulmedizin. Andere Behandlungsmethoden sind Kräutertherapie, Bewegungs- und Ernährungstherapie.

Warum wirkt Akupunktur?

Die chinesische Medizin sieht den Körper als Einheit. Die Meridiane vernetzen ihn. Sind sie in Disharmonie, entstehen Krankheiten. Wenn wir auf den Meridianen arbeiten, harmonisieren wir den ganzen Körper wieder.

Was kann die chinesische Medizin, was die Schulmedizin nicht kann?

Beide arbeiten von unterschiedlichen Perspektiven aus, obwohl ihr Ziel gleich ist: den Menschen helfen. Die Schulmedizin beobachtet die Veränderung an den Zellen. Sie greift bei akuten Zuständen ein. Die chinesische Medizin ist prophylaktisch und ganzheitlich orientiert. Wir beobachten die Umgebung der Menschen, die Körperveränderung, die Psyche, den Tagesrhythmus. Essen, Trinken, Ausscheidungen, Schlaf, Bewegung, all das. Durch die vier Säulen der chinesischen Medizindiagnose – Sehen, Riechen, Fragen und Tasten – können wir disharmonische Zustände finden. Denn der Körper ist eine Einheit. Seine Reaktionen verlaufen meist logisch. Aufgrund meiner Erfahrung sehe ich sehr schnell, wo eine Körperschwäche liegt, denn jedes Krankheitssymptom hat seine Form.

Gibt es ein spezifisches Berliner Symptom?

Ja, das Jammern. In Berlin jammert man gern und viel. Es ist eine Form, miteinander in Kontakt zu treten. Wenn man in Gemeinschaft jammert, reguliert man die Chemie untereinander. Es entsteht eine Jammerharmonie. Natürlich jammert man nicht ohne Grund. Es ist die große psychische Belastung, der viele Leute ausgesetzt sind. Die Arbeitslosigkeit, der ökonomische Druck, das macht den Leuten das Leben schwer.

Gibt es spezifische chinesische Symptome?

Angst. Auch Depression. Die Chinesen wissen, dass auf Yin Yang folgt. Zurzeit machen manche Leute viel Geld. Sie haben Angst, es wieder zu verlieren. Andere haben Angst vor sozialen Unruhen.

Haben Sie manchmal Heimweh?

Natürlich würde ich gerne meine Eltern sehen. Ich bin ihnen jedoch dankbar, dass sie mich losgelassen haben. Jetzt ist Berlin meine Heimat. Als ich ging, wusste man nicht, wie schnell sich in China alles ändert. Aber ich muss ehrlich sagen, wir haben Angst, dass es dort wieder zu einer neuen Revolution kommen könnte.

Weil die soziale Ungleichheit in China durch die ökonomischen Umwälzungen so stark geworden sind?

Ja. Aber Konfuzius sagt: Wir müssen mit unserer Erfahrung nach vorne schauen. Hinter uns liegt nur die Vergangenheit.