Reformtheologen gesucht

Das größere Integrationsproblem besteht nicht zwischen Türken und Deutschen, sondern zwischen Religion und Staat, Islam und Moderne – in der Türkei

Wer keinen Widerspruch zwischen Politik und Glauben sieht, ist denkfaul Die Muslime in Europa brauchen Anstöße aus den eigenen Reihen

Noch wird sie zumeist in unseriösen Traktaten formuliert, die Angst vor der Islamisierung Europas. Aber sie bestimmt auch zunehmend die nicht offen ausgesprochene, aber tief in den Köpfen sitzende diffuse Gedankenwelt vieler Europäer. In Deutschland spricht man höflich von Integrationsproblemen, gemeint ist aber die angebliche unverdaubare Andersartigkeit der türkischen Zuwanderer, die an Religionszugehörigkeit festgemacht wird.

Und tatsächlich gibt es ein Problem. Es ist kein Problem zwischen Deutschen und Türken, obwohl dies so oft formuliert wird – sondern eins, das seit fast einem Jahrhundert die türkische Gesellschaft tief spaltet. Viele Deutsche glauben, dass die muslimischen Türken in Deutschland eine Anpassungsleistung an die aufgeklärte und säkulare Gesellschaft erbringen müssen. Doch diese Anpassung wird ihnen auch in ihrem Herkunftsland Türkei abverlangt, sogar noch eindeutiger als hierzulande üblich. Während sich deutsche Gerichte mit der Frage beschäftigen, ob Lehrerinnen in der Schule ein Kopftuch tragen dürfen, ist in der Türkei diese Form der Verhüllung selbst für Studentinnen an den Universitäten tabu. Eine friedliche Gesellschaft, die ihre Konflikte mit zivilen Mitteln regelt, entsteht mit derartigen Restriktionen nicht.

Für die deutsche Gesellschaft wäre es hilfreich, vom hohen Ross des selbstgerechten Aufklärers abzusteigen und sich den Kulturkampf in der Türkei einmal näher anzuschauen. Damit geht zwar die Position des Überlegenen verloren, aber es sind Einsichten darüber zu gewinnen, inwieweit Muslime anpassungsfähig sind. Gleichzeitig vermeidet man einen unsinnigen ethnischen Konflikt zwischen Deutschen und Türken und kann die Lager genauer benennen und vielleicht auch Wege finden, eine Konfrontation zu vermeiden. Die deutsche Gesellschaft muss sich nicht gegen die Türken aufstellen, wohl aber gegen Islamisten, gegen jene, die aus ihrer Religion heraus eine totalitäre politische Ideologie formulieren.

Wer aber sind diese Islamisten? Zählen der türkische Ministerpräsident Erdogan und seine Partei AKP dazu? Gerade er und seine Partei waren vor vier Jahren mit einem hohen Anspruch angetreten. Sie wollten der Welt beweisen, dass muslimische Werte und Demokratie vereinbar sind. In Zeiten, in denen der Islam auch bereits zu einem Sammelbecken gewaltbereiter Modernisierungsverlierer geworden war, galt der junge türkische Politiker als Hoffnungsträger.

Zunächst schien sich diese Hoffnung auch zu bestätigen. Erdogan führte sein Land an die EU heran, verfolgte einen kompromisslosen Reformkurs, der die demokratischen Standards in der Türkei erhöhte und mehr Freiheiten als je zuvor zuließ. Doch es verstummten auch nie die Stimmen der Warner, die behaupteten, mit dem Reformkurs verfolge die in Wahrheit islamistische Regierung nur das Ziel, die laizistischen Strukturen der Türkei zu beschädigen und ihren mächtigen Wächter, die Militärs, zu schwächen.

Je mehr sich der Staatsapparat gegen seine Demontage wehrte, umso aggressiver und unkontrollierter reagierten die muslimischen Politiker. Die Kluft zwischen dem islamischen Lager und den säkularen Teilen der Bevölkerung wurde immer größer. Inzwischen gibt es heftigen Streit um Fragen des Lebensstils und der kulturellen Orientierung, der an deutsche Integrationsdebatten erinnert. Es geht um Alkoholausschank, um Moscheebauten, um die Rolle und Rechte von Frauen in der Gesellschaft. Und wie der jüngste mörderische Anschlag auf die Richter im zweithöchsten Gericht des Landes zeigt, eskaliert die Gewalt. Das Gericht hatte sich eindeutig für das Kopftuchverbot an türkischen Schulen ausgesprochen und war seitdem Zielscheibe islamistischer Hetzblätter, aber auch der Regierung.

Haben hier wieder einmal Islam und Gewalt zusammengefunden, oder ist der türkische Staat mit seinen nach wie vor bestehenden geheimen Strukturen aktiv geworden, um den Reformprozess zu torpedieren? Selbst wenn Letzteres zutrifft, darf dies Muslime nicht von der Frage abhalten, warum sich ihre Religion so eng mit Gewalttätigkeiten verknüpfen lässt.

Die strenge Trennung zwischen Staat und Religion, zwischen dem öffentlichen Raum und der Privatsphäre, die Verbannung der Religion ins Private, hat in der Türkei keine wirklich aufgeklärte, sondern eher eine schizophrene Gesellschaft geschaffen. Es gibt keinen wirksamen Schutz des Staates vor dem Islam. Kann ein Muslim behaupten, der Koran sei nicht Richtschnur in seinem Leben? Ein türkischer Politiker jedenfalls darf sich nicht offen zum Koran bekennen, ohne als Bedrohung der säkularen Ordnung der Türkei angesehen zu werden. Doch sind türkische Politiker deshalb nicht Muslime?

Diese Fragen verdeutlichen, wie kurz gegriffen und oberflächlich die Lieblingsthese des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan ist, Islam und Demokratie, Islam und Moderne seien ohne weiteres vereinbar. Es wäre wirklich ein Wunder, wenn der Islam, der eine Lebensordnung auf der arabischen Halbinsel des 7. Jahrhunderts (nach christlichem Kalender) bediente, so ohne weiteres mit den Gesellschaften des 21. Jahrhunderts zu vereinbaren wäre. Die vorschnelle, versöhnliche These der Vereinbarkeit bedient eher eine muslimische Denkfaulheit: Statt sich intensiv Gedanken über die gelebte Religion und die daraus resultierenden Konflikte mit der Moderne zu machen, flüchten sich viele in Abstraktionen wie: Der Islam achtet die Rechte der Frauen, der Islam ist gerecht und so weiter. Sie unterschätzen die Macht der Widersprüche, in die sie sich im Alltag verstricken.

Das ist verständlich, weil der Koran als unmittelbares Wort Gottes angesehen wird. Eine historisch-kritische Durchforstung der sakralen Quellen des Islam gilt in den Augen der meisten Muslime nach wie vor als Blasphemie. In Europa war aber genau diese historisch-kritische Aufarbeitung der Religion das Fundament der Aufklärung und der gesellschaftlichen Entwicklung. Auch die islamische Religion müsste endlich so reformiert werden, dass ihr Geist in den Mantel unserer Zeit passt.

Heute aber werden sogar die rationalen Denkschulen aus der eigenen Geistesgeschichte verteufelt oder zumindest ignoriert. Korrupte Machthaber und denkfaule Religionsinterpreten bedienen sich der oftmals regionalen, oft provinziellen bäuerlichen Traditionen und schnüren so eine Ideologie der Erstarrung zusammen, deren Aufschnürung vor allem die Aufgabe einer selbstkritischen Reformtheologie sein müsste. Die gibt es durchaus, zum Beispiel an der Theologischen Fakultät in Ankara. Aber ihre Arbeiten werden nur von einem kleinen Kreis wahrgenommen und haben keinen Einfluss auf die Politik.

Dabei brauchen gerade die Muslime in Europa neue Denkanstöße – eben nicht nur aus ihrer islamskeptischen Umgebung, sondern auch aus den eigenen Reihen, wenn das Zusammenleben mit Nichtmuslimen gelingen soll. ZAFER ȘENOCAK