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Archiv-Artikel

AM POKERTISCH DES SCHICKSALS ZIEHT MAN MANCHMAL EINFACH DEN KÜRZEREN – UND FÄLLT. SCHEISSNASSES LAUB ABER AUCH Viel zu kurz war das Erlebnis, von dem die Menschheit seit jeher träumt

LIEBLING DER MASSEN

Danke, Bruder Boden! Du trägst mich. Du bettest mich behutsam auf dein Lager aus Asphalt und Hundekot, beschirmst mich vor dem freien Fall ins All, bist mir Halt und bist mir Stütze. Verlässlich bist du da, wenn ich gehe, wenn ich stehe, wenn ich falle. Auch wenn ich liege, so wie jetzt.

Scheißnasses Laub aber auch.

Jede Kurve wird zum Hasardspiel. Am Pokertisch des Schicksals zocken Feuchtigkeit, Schwerkraft, Trunkenheit und Reifenprofil um meine Gesundheit. In der Mitte des Tisches türmen sich die Chips: Paprika, Cheese & Onion sowie Western Style.

Das Reifenprofil steigt zuerst aus. Nur Luschen auf der Kralle. Die Trunkenheit nimmt noch mal zwei, was ihr und damit mein Blatt nicht wesentlich verbessert. Die Schwerkraft erhöht den Einsatz, die Feuchtigkeit lauert. Dabei kann ich noch froh sein, dass keine Straßenbahnschienen mit im Spiel sind. Die pokern nämlich wie die Teufel mit ihrer immergleichen, starren Miene.

Nach außen hin gewinnt die Feuchtigkeit, doch die Schwerkraft räumt am Ende alles ab – die beiden Strolche machen offenbar gemeinsame Sache.

Der Moment des Abschmierens hat immer was Besonderes. Das Fahrrad rutscht weg, „oha“, denkt sich das Gehirn, was die Abkürzung für „ohne Halt“ sein dürfte, doch für die Langform bleibt in der Kürze des Fluges keine Zeit.

Es ist eigentlich ein ganz schöner Moment, denn auch für Ärger oder Angst vor dem Schmerz reicht die Spanne nicht. Nur der Schreck durchzuckt wie ein starker Espresso den Organismus, macht wach, hilft beim bewussten Genuss des Fluges und schärft die Sinne für das Kommende.

Die Landung. Viel zu kurz war das Erlebnis, von dem die Menschheit doch seit jeher träumt. Die sehnsuchtsvollen Blicke in den blauen Himmel, wo wie schwerelos die Vögel schweben, ohne in aller Herrgottsfrühe mit anderen mürrischen Passagieren in der Schlange zu stehen, den Gürtel auszuziehen und den Schrott aus den Hosentaschen zu leeren, um Tomatensaft trinkend von einem übermüdeten Piloten in ein viel zu heißes Land verbracht zu werden. Stattdessen eigenständig durch die Luft zu fliegen, frei zu sein. Die Landung ist hart. Körperlich und seelisch.

Nasses Laub. Was stinkt da eigentlich so? Oh nein. Oh doch. Erste Bestandsaufnahme: Alles noch dran, aber in welchem Zustand? Vorsichtiges Bewegen: Linkes Ärmchen gut, rechtes Ärmchen gut, bis auf den Ellenbogen. Linkes Beinchen gut, rechtes Beinchen na ja. Köpfchen durcheinander, aber unbeschädigt. Mehr als ein paar blaue Flecken werde ich wohl nicht abgekriegt haben. Wenn ich etwas kann, dann ist es Fallen.

Sicherheitshalber bleibe ich noch ein bisschen liegen. Ich versuche, mein Zahnfleisch aktiv zu entspannen und auch in die Räume zwischen den Organen zu atmen, um die Pforten zu meiner Gefühligkeit zu öffnen. Das kommt jetzt sicher gut.

Ein paar mit Bierflaschen bewehrte Nachtschwärmer kommen mir, der ich für sie kaum sichtbar im Dunkeln liege, gefährlich nahe, so dass ich mich warnend räuspere. Ich will nicht, dass sie auf mich drauftreten, ich bin kein Boden, auch kein doppelter, der Boden ist schließlich unter mir.

Hab ich mich bei dem überhaupt schon bedankt? So fürs Tragen und so? Egal, einmal zu oft kann auch nicht schaden: Danke, Bruder Boden.

„Funny dude“, höre ich einen der Hipster sagen. Im Vorbeigehen gießt er mir den Rest seines Biers über den Kopf. Die anderen lachen. Ich lache ebenfalls. Berlin gilt ja zurzeit als eine der aufregendsten Partystädte der Welt. Jetzt weiß man mal wieder, warum. Mühsam rapple ich mich hoch. Mein Fahrrad scheint noch heil zu sein.