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Archiv-Artikel

Eine ganze Welt im Keller

SPIELFILM In „Ich und du“ zeigt der italienische Regisseur Bernardo Bertolucci großes Gespür für die Fragilität seiner Figuren

Das Schöne an Bertoluccis Inszenierung sind die vielen kleinen Abweichungen vom Handlungsbogen

VON BARBARA SCHWEIZERHOF

Junge Menschen, so könnte man auf den ersten Blick meinen, beherrschen das Kino. Die Flucht- und Ermächtigungsfantasien dieser mittlerweile so erfolgreich als „Young Adult“ gelabelten Zielgruppe spülen in Form von „Thor“ und „Tribute von Panem“ gegenwärtig das große Geld in die Kassen der Filmindustrie. Reale 15-Jährige spielen auf der Leinwand schon seltener eine große Rolle. Es sei denn, man kann ihre Leiden am Erwachsenwerden launig als Coming-of-Age-Komödie verpacken. Weshalb als erster Vorzug eines Films wie Bernardo Bertoluccis „Ich und du“ seine Ernsthaftigkeit ins Auge fällt.

Lorenzo (Jacopo Olmo Antinori), 14 Jahre alt, hat fast schon etwas erschreckend Reales: Vom Gang bis zur Kopfhaltung bis zur Redeweise erscheint er als der typisch Pubertierende, den als „unausgeglichen“ zu bezeichnen noch ein Euphemismus wäre. Seine Gesichtshaut trägt die Spuren innerer Konflikte, physischer wie psychischer Art. Sein wild wuchernder Haarschopf, unter dem er sich wegduckt, funktioniert wie eine Tarnkappe. In der Tat: Lorenzo will sich verbergen. Die Gründe dafür sind so offensichtlich wie mysteriös. Der abwesende Vater steht irgendwie als fordernde Drohung im Hintergrund. Die Mutter dagegen fällt ständig vom Extrem des Mütterlich-Übergriffigen ins verzweifelte Überfordertsein. Wirklich gute Freunde scheint es für Lorenzo nicht zu geben.

So diffus die Problemlage ist, so klar ist sein Fluchtplan: Lorenzo will seine Ruhe – und wird dafür erfinderisch. Er nutzt die Gelegenheit einer Klassenfahrt: Von seiner Mutter lässt er sich zum Abfahrtsort fahren, macht ihr klar, dass er der Peinlichkeit eines öffentlichen Mutter-Sohn-Abschieds ausweichen will, und lässt sich um die Ecke absetzen. Dann taucht er ab – in den Keller des elterlichen Wohnhauses. Dort hat er sich im Gerümpel von Möbeln und Mussolinibüste ein Lager vorbereitet, samt genau abgezählter Lieblingslebensmittel, die ihm zwar keine Gesundheit, aber das Nichtverhungern garantieren.

Kalter Entzug

Sein Idyll hält nicht lange. Denn eine weitere Person hat sich diesen Familienkeller als Fluchtort ausgesucht: Lorenzos 25-jährige Halbschwester Olivia (Tea Falco). Ihr Grund sich zu verkriechen ist dringlicher. Die Heroinsüchtige will einen kalten Entzug machen. Sie war mal eine Kunststudentin, in die große Hoffnungen gesetzt wurden. Nun deutet sich für sie eine Chance an, den durch die Sucht verlorenen Pfad wieder aufzunehmen. Es könnte die letzte sein.

Was folgt – Bertolucci setzt hier ein Buch des Drehbuchschreibers Niccoló Ammaniti um –, scheint sich aus der Konstellation wie automatisch zu ergeben: dass die beiden über Ressentiments und Rivalität irgendwie zu einem Bündnis finden. Doch das Schöne an Bertoluccis Inszenierung ist, dass dieser gleichsam mechanische Handlungsbogen viele kleine und interessante Abweichungen beinhaltet.

Bertolucci hat ein besonderes Gespür für die Fragilität seiner Figuren. So taff sie auch agieren, verliert der Film nie aus den Augen, wie jung sie sind und wie unerfahren. Ihr Zusammenfinden passiert in Momenten von Erschrecken und Überfordertsein. Beide sind eigentlich zu sehr in sich verstrickt, um ihre gegenseitigen Probleme zu verstehen. Olivia begegnet Lorenzo mit vorgetäuschter Herablassung; er betrachtet sie heimlich, als sie schläft, mit einer Lupe. An keiner Stelle vergisst der Film, dass Lorenzo ein Teenager ist, dessen Sexualität auf Lautstärke 12 steht, aber nie stellt er ihn damit bloß. Einmal tanzen Olivia und Lorenzo miteinander, und die ganze Palette verwirrender Gefühle ist anwesend, die sich aus der körperlichen Nähe zweier Geschwister ergibt. Dann wieder sind sie nur zwei Ertrinkende, die sich aneinander festhalten.

Seinen letzten Film hat der mittlerweile 73-jährige Bertolucci vor zehn Jahren gemacht. „Dreamers“ war die wunderbar „intimistische“ Spiegelung der 68er Bewegung in einer inzestuösen Geschwisterbeziehung. „Ich und du“ mag weniger Zeitgeistkritik enthalten, und doch wird hier, auch wenn die Handlung vermeintlich nur in einem Keller spielt, eine ganze Welt erkundet.

■ „Ich und du“. Regie: Bernardo Bertolucci. Mit Jacopo Olmo Antinori, Tea Falco u. a. Italien 2012, 97 Min.