Verdichtetes Sterben

LITERATUR-INSZENIERUNG Am Schauspiel Frankfurt gedenkt man Thomas Bernhard mit einem Kondensat aus seiner Autobiografie

Thomas Bernhards Sätze scheinen seit jeher dazu gemacht, laut gesprochen zu werden

VON SHIRIN SOJITRAWALLA

Am 12. Februar im kommenden Jahr jährt sich der Todestag Thomas Bernhards zum 25. Mal. In Frankfurt gedenkt man des österreichischen Dichters und Grantlers schon einmal vorab. „Wille zur Wahrheit“ nennt der dortige Schauspielintendant Oliver Reese seine aus Bernhards fünfbändiger Autobiografie („Die Ursache“, „Der Keller“, „Der Atem“, „Die Kälte“, „Ein Kind“) gewonnenen Textfläche. Eine stark gekürzte wie verdichtete Version der berüchtigten Bestandsaufnahme Bernhards, der sein Leben darin als ein einziges Sterben begreift.

Rigoros und mit dem bekannten Furor erzählt der begnadete Störenfried um sein Leben, im kreiselnden Stil, mit manischen Wiederholungen, langen Sätzen, Irrsinn und Schalk im Blick. Selbsterkenntnis lautet das Ziel. Wozu sonst ist der Mensch auf der Welt? Auf der großen Bühne des Schauspielhauses hat Hansjörg Hartung zwei weiß gekachelte Wände über einer gekachelten kleinen Spielfläche aufgetürmt. Ein kahler Erinnerungsraum, ein Sterbezimmer auch, das vom Unbehaustsein in der Welt spricht und gleichzeitig auf die unwirtlichen Räume in den fünf Büchern verweist: das Internat, die im Keller untergebrachte Lebensmittelhandlung oder das Badezimmer im Krankenhaus. In jedem Band gibt es solch einen zentralen Ort und ein besonderes Ereignis, das diese Inszenierung betont.

Zwischen den hoch aufragenden Wänden bleibt ein Ausweg offen, von dort treten sie auf, die dramatischen Ichs aus Bernhards Autobiografie: zuerst Bettina Hoppe, im Herrenanzug, die pfeifend beginnt und sich in Rage redet, dann wieder wehmütig sehnsüchtig berichtet. Den hellsichtig bösartigen Bernhard-Worten verleiht sie unerschütterliches Gewicht, wirkt dabei wie ein zum Sprung bereites Tier.

Der Schauspieler Viktor Tremmel kommt hinzu, sieht aus wie ein Lausbub, macht Faxen und betont die Komik des Textes. Dabei versucht die Inszenierung, die lange Monologe aufzulockern, indem sie etwa eine Episode auf dem Arbeitsamt auch pantomimisch darstellen lässt. Das funktioniert aber nicht, weil man die Anstrengung, der Textfläche szenisch beizukommen, so stark spürt.

Übermut und Größenwahn

Das gilt ebenso für die Interaktionen zwischen den einzelnen Ichs. Und doch ist das nur die halbe Wahrheit: Denn im fünften Teil, wenn Peter Schröder eine der schönsten Kindheitsszenen überhaupt zum Leben erweckt, klappt das Pantomimenspiel auf einmal wunderbar. Dann steht Schröder ganz vorne auf einem Bein und saust auf seinem imaginären Rad auf direktem Wege von Traunstein nach Salzburg. Dazu zieht er ein Gesicht, das vom Übermut und Größenwahn der Kinderseele ebenso beredt erzählt wie von der unteilbaren Scham und vom Scheitern in jungen Jahren. Mit dieser Szene beginnt Bernhard den letzten Teil seiner in den siebziger und beginnenden achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts entstandenen Autobiografie, die in jedem Buch einen anderen Ton anschlägt.

Oliver Reese besetzt diese Tonlagen mit fünf sehr unterschiedlichen Schauspielern aus seinem bedeutenden Ensemble. Außer den erwähnten sind das noch Josefin Platt als blutspuckende Harlekinfigur, der die Todesangst ins blasse Gesicht geschrieben steht, und Vincent Glander, der sehr unmittelbar, streng und ironisch korrekt den ernsthaft Kranken verkörpert und dabei immer mal wieder ein angetäuschtes Bernhard-Lächeln um die Mundwinkel schiebt: fünf unterschiedliche Temperamente, die das Traurige, das Anekdotische, das Unsagbare, das Niederschmetternde und das Zarte des Textes auf jeweils grandios eigenwillige Weise verkörpern.

Dazu werden immer mal wieder Fotografien auf die Kachelwände projiziert, Salzburg- und Landschaftsansichten: Traumbilder, die sich gut zu den von Jörg Gollasch arrangierten zarten Schubert-Melodien fügen. Warum dieser Stoff auf die Bühne muss, könnte man sich fragen und tut es keinen Augenblick, scheinen Bernhard-Sätze von jeher dazu gemacht, laut gesprochen zu werden. Von den mehr als 500 Seiten der Autobiografie bleiben bei Oliver Reese noch rund 50 Seiten übrig. 50 Seiten Monolog. Die beinhalten sehr selten Längliches, strengen aber zuweilen allein deswegen an, weil sie unser aller Kindheit und Jugend auf den Prüfstand stellen. Kurz: ein Abend, der zu Kopf steigt und zu Herzen geht.