Wieder entdeckt

FOTO Das Jüdische Museum zeigt in einer erstmals umfassenden Schau in Deutschland das Werk von Fred Stein – „Im Augenblick“

VON SONJA VOGEL

„Dresden vertrieb mich, so wurde ich Fotograf.“ Mit diesem simplen Satz beschrieb der jüdische Fotograf und überzeugte Sozialist Fred Stein, wie sein Weg über die Emigration aus Nazideutschland ihn zur Fotografie führte. Der vertrauten Umwelt und Bilder beraubt, blickte Stein durch eine Fotolinse auf die Welt: So entstanden hunderte Porträts sowie Straßenansichten aus dem Paris der 30er und dem New York der 40er Jahre.

„Im Augenblick. Fotografien von Fred Stein“ ist die erste umfassende Retrospektive des 1909 in Dresden als Sohn eines Rabbiners geborenen Fred Stein. Mehr als 130 seiner Schwarz-Weiß-Aufnahmen sind ab heute im Jüdischen Museum zu sehen. Neben den klassischen New Yorker Ansichten – Häuserschluchten, Skyline, Leuchtreklamen – sind die spontan entstandenen Straßenfotografien als Milieustudien besonders faszinierend: Bilder aus Harlem, China Town, Little Italy oder den jüdischen Vierteln.

Stein muss einen guten Draht zu den Menschen auf der Straße gehabt haben, keiner der Porträtierten posiert, keiner zieht Grimassen, wenn Stein die Kamera auf ihn richtet. Im Gegenteil: Wer direkt in die Kamera blickt, lacht entspannt. Wie bei dem Foto, das Mädchen in Harlem beim wilden Spiel am Wassergraben zeigt. Ein einziges Kind blickt dem Betrachter lachend in die Augen: der perfekte Augenblick.

Fred Stein konnte den Alltag der Leute abbilden, weil er eine Kleinbildkamera besaß, klein und schnell. Die Leica bekam er 1933 zur Hochzeit geschenkt, sie wurde ein wichtiger Teil seines Lebens. Sie brachte ihn zur professionellen Fotografie. Mit ihr blickte er auf eine Welt, die ihm in Deutschland als Juden und Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei feindlich gegenüberstand.

In Paris, wohin die Steins, eine Hochzeitsreise vortäuschend, 1933 flüchteten, konnte Fred Stein nicht mehr als Jurist arbeiten. Er machte sein Hobby zum Beruf und hatte schnell Erfolg: Lokalzeitungen und Fotomagazine veröffentlichten seine Pariser Straßenszenen. In Paris gründete er auch ein Fotostudio. Die Visitenkarten dazu und auch Kontaktbögen dieser Zeit sind in Vitrinen ausgestellt: eine rührende Serie von Flüchtlingskindern aus dem spanischen Bürgerkrieg in Paris 1936.

Mit einem feinen Humor

Trotz aller Ernsthaftigkeit der Themen besitzen Steins Bilder einen feinen Humor. „Seine Fotografien erzählen die Pointen, bevor der Witz erzählt worden ist“, fasst es Cilly Kugelmann, die Programmdirektorin des Jüdischen Museums, zusammen. Tatsächlich zeigt sich in den Fotos Steins ausgeprägter Sinn für Skurrilitäten: eine Frau, die in vollstem Ernst zum Schutz vor der Sonne eine Zeitung auf dem Kopf trägt, ein Mann, der sich zum Lesen in eine winzige Sackkarre zurückgezogen hat, eine glücklich lächelnde Bilderbuchfamilie samt Hund vor dem Zeitungstitel „Italy surrenders“.

In der Ausstellung, die nicht chronologisch oder geografisch, sondern nach Themenfeldern geordnet ist, zeigt sich die Entwicklung des Fotografen. So muten die Bilder aus Paris romantisch an, sie haben weiche Kontraste, zeigen offene Szenerien mit Zierelementen wie verschnörkelte Straßenlaternen oder Liebespaare. 1939 dann wurde Stein als „feindlicher Ausländer“ interniert, erst 1941 gelang ihm die Flucht: Mit einem der letzten Schiffe setzte er von Marseille aus mit seiner Familie und einigen Negativen im Gepäck in die USA über.

Dieser Bruch, die zweite Flucht, schlug sich auch in seiner Fotografie nieder. Die Kompositionen der New Yorker Aufnahmen sind enger, brutaler. Stein ist fasziniert von der Monumentalität der Architektur. Doch selbst die dramatischsten Aufnahmen aus der Aufsicht haben etwas beinahe Zartes: Licht und Schatten umspielen die scharfen Ecken und Kanten der riesigen Solitäre, Stahlgerüste und Betonquader.

„Mein Vater war ein Humanist“, erklärt Peter Stein diese unerschütterliche Hingabe an eine Welt, die ihm doch übel mitgespielt hatte. Der Sohn des Fotografen ist aus New York zur Ausstellungseröffnung angereist. Er erzählt, wie ihn sein Vater als Kind mit ins Museum nahm, ins Kino und auf die Straße, wo er sein Interesse für die Kompositionen alltäglicher Objekte weckte. „Er hat mir beigebracht, die Welt in einem Rahmen zu sehen.“ Peter Stein wurde Kameramann. „Friedhof der Kuscheltiere“ zum Beispiel hat er gedreht.

Neben den Porträts unbekannter Arbeiter, Obdachloser, Verkäuferinnen oder Passantinnen porträtierte Fred Stein auch Prominente. „Die Kamera unterscheidet nicht zwischen Berühmtheiten und einem Niemand“, schrieb er einst. Und so hängen im Jüdischen Museum neben den Straßenszenen mehr als siebzig Porträts von Sozialisten, Künstlern, Intellektuellen und Präsidenten. Die Auswahl ist ein Who is who der Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts: Salvador Dalí, Hannah Arendt, Marc Chagall, Marlene Dietrich, Thomas Mann.

Fast schon vergessen

Obwohl einige Porträts international bekannt sind – etwa ein wunderbar unprätentiöses Bild von Albert Einstein im Strickpullover – war der Fotograf nach seinem frühen Tod 1967 in Vergessenheit geraten. Warum dem so war? Einerseits hatte sich die Fotografie in Technik und ästhetischem Geschmack rasend schnell fortentwickelt. Andererseits hatte sich in den 50er und 60er Jahren niemand um die Geschichte von Flucht und Emigration gekümmert, Fotografien der Geflüchteten waren noch weniger von Interesse.

Selbst das Jüdische Museum stieß nur durch Zufall bei einer Ausstellung in New York auf Stein. Umso schöner ist es, 75 Jahre nach deren Entstehen diese Momentaufnahmen eines ruhelosen Flaneurs betrachten zu können.

■ „Im Augenblick. Fotografien von Fred Stein“: Jüdisches Museum, Lindenstr. 9–14, bis 23. März 2014