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Archiv-Artikel

Schlechte Chancen für Aussiedlerkids

Nicht nur türkischstämmige MigrantInnen haben es in der Schule schwer. „Fit für Bildung“ hilft Aussiedlern

Von den Absagen erzählt Natascha ihren Eltern längst nichts mehr. „Das ist, weil wir anders sind“, würden die wieder sagen, wenn eine weitere Bewerbung zurückkommt. Und das will die 26-jährige Studentin nicht mehr hören.

Natascha, die ihren wirklichen Namen nicht in der Zeitung lesen will, lebt in Berlin und studiert Ethnologie. Geboren ist sie in einem Dorf in Kasachstan. Vor 16 Jahren kam sie mit ihrer Familie als so genannte Aussiedlerin nach Deutschland. Ihre Eltern wohnen in einer baden-württembergischen Kleinstadt und haben die deutsche Staatsangehörigkeit.

Natascha ist ein Beispiel dafür, dass die katastrophalen Bildungschancen, die die neue Pisa-Auswertung den Migrantenkindern bescheinigt, nicht nur für Kinder mit türkischen Eltern gilt. Denn Natascha musste sich ihren Weg zum Studium erkämpfen – nicht nur gegen die Vorurteile ihrer Familie. Nach einem halben Jahr in Deutschland wurde die damals Zehnjährige gemeinsam mit den anderen Aussiedlerkindern ihrer Klasse auf die Hauptschule geschickt. Automatisch. Denn sie sprach noch kein Deutsch, sondern nur Russisch.

„Daran änderte sich in den ersten Jahren in Deutschland nicht viel“, erzählt sie heute akzentfrei. „In meiner Klasse und meinem Wohngebiet kamen fast alle Kinder aus der ehemaligen Sowjetunion. Es gab überhaupt keinen Kontakt zu Deutschen.“

Gerade für die jungen Aussiedler ist die Integration in Deutschland oft besonders schwer. Sie werden aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen, erfahren Ablehnung in ihrer neuen Heimat und sprechen häufig kein Deutsch. „Meine Eltern halten sich für Menschen zweiter Klasse“, erzählt Natascha. „Weil sie Arbeiter sind und in Deutschland nur als Russen wahrgenommen werden.“ Dabei haben Aussiedler und Spätaussiedler bei ihrer Ankunft häufig einen höheren Schulabschluss als andere Migrantengruppen. Allerdings hilft ihnen das zumeist wenig.

Laut einer Studie der OECD über die Arbeitsmarktchancen von Migranten haben sich die Möglichkeiten der Spätaussiedler auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt in den vergangenen Jahren in Deutschland deutlich verschlechtert. Trotz ihres besseren rechtlichen Status durch den deutschen Pass ist ihre Situation heute fast genauso schwierig wie die anderer Migrantengruppen.

Hinzu kommt: Lange wurde das Problem unterschätzt. Der Migrationsexperte Klaus J. Bade betont schon länger, dass Aussiedler – trotz deutscher Staatsangehörigkeit – mit den gleichen Schwierigkeiten konfrontiert werden wie andere Zuwanderergruppen. Viele der jugendlichen Spätaussiedler würden von ihren Eltern „nur mitgenommen“. Sie verstehen nicht, warum ihre Eltern sich als Deutsche sehen und unbedingt weg aus ihrer Heimat ziehen wollten – in Deutschland werden sie zudem ausgegrenzt. „Damit kann sich die Frustrations- und Aggressionsschwelle verändern, und das kann sich in Gewalt äußern“, sagt Bade.

Wie Aussiedlerkinder besser integriert werden können, zeigt Natalia Zincenko. Sie ist erst vor einem Jahr von Russland nach Deutschland gekommen. Die 16-Jährige sitzt in einem engen Raum der Studienberatung einer Berliner Uni. Sie hört aufmerksam zu, als die Unterschiede zwischen einem Master und Bachelor-Studiengang erklärt werden. Natalia ist zum ersten Mal in einer Universität. Sie lernt Deutsch und besucht die zehnte Klasse einer Gesamtschule. „Ich möchte einmal Anwältin werden“, erzählt sie etwas schüchtern und fügt dann stolz hinzu: „Gerade habe ich meine Empfehlung für das Gymnasium erhalten.“ Seit Oktober 2005 nimmt Natalia an dem Projekt „Fit für Bildung“ des Vereins Berlinpolis teil. Das Prinzip ist einfach: 20 Mentoren, die an Berliner Universitäten studieren, betreuen fast 60 Schüler. „Wir beraten die Jugendlichen bei der Wahl des Studienfachs, zeigen unseren Universitätsalltag und versuchen ihnen die Angst vor den unbekannten Institutionen zu nehmen“, sagt Igor Gayk, ebenfalls aus Russland und seit zwei Jahren Biochemiestudent in Potsdam.

Die zwei Leiterinnen des Projekts kritisieren, dass die meisten Integrationsprogramme sich zu wenig auf Bildung konzentrieren. „Wir setzen bei den Schülern an, die den oft schwierigen Weg bis in die Oberstufe schon geschafft haben“, sagt Julia Gerometti, eine der beiden. Ziel sei es, die jungen Menschen in das höhere Bildungssystem zu integrieren, indem ihnen der Zugang zur Hochschule erleichtert wird.

Oftmals leide die Motivation zu studieren, je länger die Aussiedler in Deutschland leben, erklären die beiden Leiterinnen von Berlinpolis. „Die Schüler sind abgeschreckt, weil ihnen vermittelt wird, dass sie es sowieso nicht schaffen und keinen Job bekommen.“

Ina Schlegel ist Mentorin bei dem Projekt. Die junge Frau mit dem herzlichen Lachen kann nachvollziehen, wie es ihren Schülern geht. Sie ist selbst als Aussiedlerin nach Deutschland gekommen – so wie zwei Drittel der Mentoren, die bei dem Projekt mitarbeiten. „Die Schüler sind froh, hier einen Ansprechpartner haben“, erzählt die Studentin Schlegel. Integrationsprojekte mit Konzentration auf eine Zuwanderergruppe oder von Migranten selbst durchgeführt, stehen jedoch häufig in der Kritik.

„Die Schüler, Lehrer und Eltern haben ihre Sorge geäußert, dass eine Konzentration auf Aussiedler die Ausgrenzung noch verstärken könnte“, erklären die Leiterinnen des Projekts. Alle Seiten hätten gefordert, dass auch andere Migrantengruppen und Menschen mit deutscher Herkunft einbezogen werden. So sind nun ein Drittel aller Projektteilnehmer aus Deutschland.

Jürgen Nowak hält den Ansatz des Projekts dennoch für sinnvoll. Er ist Professor für Sozialökonomie und Soziologie an der Alice-Salomon-Fachhochschule in Berlin. „Die Konzentration auf eine bestimmte Zuwanderergruppe wie die Aussiedler ist eine positive Diskriminierung. Wir sollten dies als eine Übergangsphase akzeptieren“, erklärt er. Die Diskussion um die Benachteiligung sei keine ethnische oder kulturelle Frage, sondern in erster Linie eine Frage der sozialen Selektion. „Bestimmte Schichten haben weniger Zugang zur Hochschule, und dazu gehören auch ethnische Minderheiten.“

Mentorin Schlegel versucht ihren Schützlingen klar zu machen, was für besondere Qualitäten die jugendlichen Migranten mitbringen. „Sie haben schon einmal den schwierigen Schritt aus einem ganz anderen Land hierher gemacht und bringen dadurch hohe interkulturelle Fähigkeiten mit.“ Doch das würde in Deutschland beinahe nie erkannt – geschweige denn anerkannt. INGA RAHMSDORF