: Angeschwemmte Leichen
Die Journalistin Corinna Milborn und der Fotograf Reiner Riedler beschreiben, wie Flüchtlinge aus aller Welt mit selten mehr, meist aber weniger Glück die Festung Europa erstürmen
Badeurlaub am Mittelmeer kann heutzutage mit einem gewissen Unbill verbunden sein: Gut möglich, dass morgens am Strand die angeschwemmte Leiche eines Schwarzen herumliegt. Bisweilen treiben auch Schlauchboote vorbei, in denen Verdurstete liegen. Oder es kommt ein überladener rostiger Kutter daher, der seine halbverhungerte menschliche Fracht glatt an der Küste absetzen würde, würde ihn die italienische Marine nicht wieder aufs offene Meer treiben. 6.366 Menschen sind in den vergangenen zehn Jahren offiziell beim Versuch umgekommen, nach Europa einzuwandern – 90 Prozent auf See. Das Rote Kreuz schätzt, dass nur jeder dritte Tote gefunden wird – man kann also von 20.000 Toten seit Mitte der Neunzigerjahre ausgehen. Die kleine Insel Lampedusa, auf die fast täglich Tote angeschwemmt werden, ist für den schwedischen Autor Henning Mankell deshalb Chiffre für das mauern- und stacheldrahtbewehrte Europa: „In diesem Horror-Bild konkretisiert sich Europa als grausame, abweisende Festung.“
Man weiß das alles – irgendwie. Und man weiß es irgendwie auch nicht. Der Horror bleibt im toten Winkel, die Verzweifelten, die sich etwa beim Versuch, die Stacheldrahtverhaue um die spanischen Afrika-Exklaven Ceuta und Melilla zu überklettern, ganze Fleischstücke aus den Armen reißen, werden vielleicht für ein paar TV-Sekunden in die Wohnzimmer gezoomt. Was das Abschottungsregime Europas aber tatsächlich bedeutet – das bleibt, buchstäblich, auf Abstand.
Deswegen kann das Buch „Gestürmte Festung Europa“ der Wiener Reporterin Corinna Milborn gar nicht genug gepriesen werden. Milborn war einfach überall: in Ceuta am Zaun, in Marokko in den Wäldern, wo sich die sammeln, die über den Zaun wollen, an der marokkanischen Mittelmeerküste, wo Schlepper vierzig, fünfzig Auswanderwillige in wackelige Kähne pferchen, in den Slums, wo sich die Illegalen konzentrieren – aber auch in den großen Landwirtschaftsbetrieben Spaniens, wo die illegalen Afrikaner als Erntehelfer arbeiten und in den Küchen chicer Wiener Innenstadt-Restaurants, in denen sie Teller abwaschen. Und dort, wo den äußeren Grenzen nachgeordnet die inneren Grenzen hochgezogen sind: in den Einwandererghettos „Londonistans“, wo ein rabiater Islamismus grassiert, und in den Pariser Banlieues, als dort das Gemisch aus Zukunftslosigkeit, Langeweile und Unterprivilegierung explodierte. Mit Milborn unterwegs: der Fotograf Reiner Riedler, dessen Bilder das Buch komplettieren.
Dieses Buch ist eine Anklage – und das ohne in Multikulti-Romantik oder „Alle Grenzen auf“-Pathos zu verfallen. Es beschreibt, welchen moralischen Preis Europa für seine Abschottungspolitik bezahlt. Der Umstand, dass es heute praktisch unmöglich ist, legal zu Arbeitszwecken Europa zu erreichen, führt ja nicht dazu, dass niemand nach Europa kommt – sondern dazu, dass die Einwanderungswilligen entwürdigende, mühsame und zunehmend lebensgefährliche Kanäle nutzen müssen, um hereinzukommen.
Um wenigstens ein paar abzuhalten, werden die Mauern höher gezogen, raffinierte Überwachungssysteme installiert, Zäune mit automatischer Tränengasanlage erfunden. „Europa“, konstatiert Milborn, „nimmt für die Bekämpfung der Flüchtlinge den Bruch der eigenen Werte, der Menschenrechte und der Genfer Flüchtlingskonvention in Kauf.“
Das ist umso grotesker, als das Gros derer, die es schaffen, sofort in der Schattenwirtschaft Beschäftigung findet: Kinderbetreuung, Altenpflege, Landwirtschaft, Bau – nichts ginge ohne die Illegalen. 1,2 Millionen, so Schätzungen, sind in Deutschland tätig, 500.000 in Österreich, zwei Millionen in Italien. Als Spanien denjenigen Illegalen die Legalisierung anbot, die seit mehreren Jahren ordentlich gemeldet (!) waren und einen regulären Arbeitsvertrag besaßen – Privilegien, über die nur ein kleiner Teil der Illegalen verfügt –, meldeten sich 700.000 Menschen.
Wer es schafft, kriegt in wenigen Tagen einen Job – schlecht bezahlt, ohne Rechte, aber immerhin einen Job. Weil das bekannt ist, wird der Strom nicht abreißen. Unfassbar, was die Menschen in Kauf nehmen, um die Mauern zu überwinden. Bei Corinna Milborn kann dies nachgelesen werden, und weil die Flüchtlinge selbst zu Wort kommen, erfahren wir etwas über ihre Sehnsüchte und was sie von uns halten, die wir sie behandeln, als wären sie wilde Tiere, die man vom Hof scheuchen muss.
Man sagt, schließt Milborn, die Immigranten könnten sich europäischen Werten nicht anpassen. Aber was sind diese Werte? Das, was außer Kraft gesetzt wird, wenn Einwanderer davon betroffen sind. ROBERT MISIK
Corinna Milborn: „Gestürmte Festung Europa“. Mit Fotos von Reiner Riedler, Styria-Verlag, Wien u. a. 2006. 248 Seiten, 19,90 Euro