Wahrheit und Dichtung

„Ich trau den Dichtern, besonders den deutschen, nicht“: Ruth Klüger untersucht in „Gelesene Wirklichkeit“ die Zusammenhänge von Fakten und Fiktionen in der Literatur

von OLIVER PFOHLMANN

Literatur erzählt Fiktionen, erfindet Geschichte und Geschichten. Niemand würde sie deshalb heute mehr wie einst Platon der Lüge und Täuschung bezichtigen. Was aber, wenn sich die Literatur auf die Wirklichkeit einlässt? Wenn sie reale Geschichte nacherzählen will wie im historischen Roman oder im Drama? Kann sie dann lügen? Maria Stuart und Elisabeth I. etwa waren zum Zeitpunkt ihres Konflikts um einiges älter als bei Schiller – war diese Verjüngungskur nun ein genialer Kunstgriff oder eine Verfälschung der historischen Wahrheit im Dienste des Kitschs?

Jener Literatur, die sich an den Schnittstellen von Realität und Fiktion entzündet, gilt seit langem das Augenmerk der amerikanischen Germanistin Ruth Klüger. Ihre Beiträge zu diesem Thema, Rezensionen, Preisreden sowie ihre Bonner und Tübinger Poetikvorlesungen aus den Jahren 1995 und 2005 liegen jetzt unter dem Titel „Gelesene Wirklichkeit“ gesammelt vor. Ruth Klüger, die 1931 in Wien geboren wurde und „noch einen letzten Zipfel eines untergegangenen, kurzlebigen Wiener Kulturjudentums“ erwischen konnte, ist eine Essayistin im besten Sinne. Wie schon ihre früheren Bücher („Katastrophen“, 1993; „Frauen lesen anders“, 1996) gezeigt haben, sind ihre literaturkritischen Arbeiten originelle Denkexperimente, keine Dekrete. Sie lassen den Leser auf eine sehr sympathische Weise am Prozess der Wahrheitsfindung teilhaben, mit ebenso unaufgeregten wie beharrlichen Reflexionen über die Zusammenhänge von Ethik und Ästhetik.

Das Interesse an „Fakten und Fiktionen in der Literatur“ hat, wie Ruth Klüger bekennt, nicht zuletzt persönliche Gründe. Bis heute bezeichnen Leser, aber auch Kritiker, die ihre Autobiografie „weiter leben“ loben wollen, diese gerne als „Roman“. Ein, aus Ruth Klügers Sicht, fragwürdiges Etikett. „Fiktiv“ wollen ihre Erinnerungen an ihr Überleben im Nazi-Terror ja gerade nicht sein, im Gegenteil: Ihr Anspruch ist der einer Zeugenaussage, eines subjektiven Beitrags zur Geschichtsschreibung. Was im Umkehrschluss bedeutet, dass eine Autobiografie auch lügen kann. Siehe beispielsweise Benjamin Wilkomirskis „Bruchstücke“. Für Ruth Klüger zeigt der Fall der zunächst gefeierten, dann als gefälscht enttarnten KZ-Erinnerungen Wilkomirskis noch etwas anderes: Wir beurteilen Bücher, die sich auf Wirklichkeit berufen, Autobiografien, aber auch „historische Romane“ nicht allein nach ästhetischen Maßstäben.

Vielmehr kann sich die Wahrnehmung ästhetischer Qualitäten ändern, wenn der Leser erkennt, dass er getäuscht wurde, dass der Autor jenen Kontrakt, den er mit ihm eingegangen ist, gebrochen hat. Gerade von Holocaust-Literatur wird verlangt, dass sie sich an die Fakten hält. Jedoch: „Der Holocaust eignet sich hervorragend für Kitsch und Pornografie.“ Weshalb man solchen „Kitschmenschen“ wie Benjamin Wilkomirski leicht auf den literarischen Leim geht.

Auch Steven Spielbergs Film über den guten Deutschen Oskar Schindler, den Ruth Klüger gegen Kritiker wie Claude Lanzmann in Schutz nimmt, erschiene wohl als unerträglich, wäre er reine Erfindung. Und dass es bei der Beurteilung eines Werkes einen erheblichen Unterschied macht, wer sein Autor ist, ein Deutscher oder ein Jude, das verdeutlicht Ruth Klüger am Beispiel von „Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch“.

Dieser angeblich frühe Roman Wolfgang Koeppens, der 1992 vom Suhrkamp Verlag veröffentlicht wurde, entpuppte sich als plumpes Plagiat, wie erst die Publikation der originalen Aufzeichnungen des in die USA emigrierten polnischen Juden Jakob Littner erkennen ließ. Was sich aber unter dem Namen Wolfgang Koeppen als anmaßend las, erscheint unter Littners Namen als legitimes Zeugnis eines Überlebenden.

Man sieht: „Werkimmanente“ Deutungen, wie sie sie in den Sechzigerjahren während ihres Studiums in den USA kennen lernte, sind Ruth Klüger so fremd wie postmoderne, dekonstruktivistische Perspektiven. Die Literatur, so Ruth Klüger unter Berufung auf eine Metapher Elfriede Jelineks, hat eine ethische Aufgabe: Sie hat die ungekämmte, struppige Wirklichkeit zu frisieren, in eine tröstliche Form zu bringen.

Der Autor ist für sie nach wie vor quicklebendig, und dass sich Wahrheit und Lüge, Facts und Fiction, manchmal zum Verwechseln ähnlich sehen, wie etwa im neuen Genre des Dokudramas, zeigt für sie nur eines: die Notwendigkeit der Kritik. „Ich habe ein gespanntes Verhältnis zu der Literatur, mit der ich mich abgebe“, bekennt Klüger denn auch. „Ich trau den Dichtern, besonders den deutschen, nicht.“

Ruth Klüger: „Gelesene Wirklichkeit. Fakten und Fiktionen in der Literatur“. Wallstein Verlag, Göttingen 2006, 222 Seiten, 22 Euro