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Archiv-Artikel

Flieg nicht zu tief

Die Ausstellung „Im Reich des Kollektiven. Moskauer Künstler 1961–86“ in der Galerie Sandmann erinnert an einen fintenreichen Kunst-Untergrund

VON BARBARA KERNECK

Eines Tages trat Herr Komarow von seinem Balkon aus ins Leere. Da merkte er plötzlich, dass er fliegen konnte. Was weiter mit dem zierlichen Herren passierte, lässt sich dieser Tage in der Galerie Sandmann verfolgen. Die Ausstellung „Im Reich des Kollektiven – Moskauer Künstler 1961–1986“ versammelt noch einmal Arbeiten, deren Urheber aus einer inneren Widerspruchshaltung heraus im Sowjetreich zu ausgefuchsten Individualisten wurden. Später nannte man sie „Konzeptualisten“, heute sind sie schon so etwas wie Klassiker: Ilja Kabakow, Viktor Piwowarow, Iwan Tschujkow, Vjatscheslaw Sisojew und Dmitrij Prigow.

Mit dem Beginn des Tauwetters 1956 hatten auch sie frische Hoffnung geschöpft. Aber dann beschimpfte auf einer Ausstellung in der Moskauer Manege 1962 Nikita Chruschtschow in einem Wutanfall die Avantgardisten als „Päderasten“ und läutete damit das Verbot der Künstler ein. Und das – so weiß es die Legende – war dann die Geburtsstunde der Untergrundkunst.

„Der abgeflogene Komarow“, ein 1974 handgezeichnetes Album von Ilja Kabakow, wurde einer ihrer Inkunabeln. Die zweite Auflage des Albums druckte Kabakow 1981 auf einer Werkbank, die er für Radierungen extra umfrisiert hatte. „Wer sich nahe steht, fliegt nebeneinander“, heißt es in dem vom Künstler unter eines der Blätter gepinselten Text. Und an anderer Stelle: „Die es vorziehen, allein zu fliegen, werden als ‚ehrgeizig‘ bezeichnet, manchmal fliegen sie ‚sehr tief über der Erde‘.“

Dies entsprach den Erfahrungen im Kreis der Moskauer Konzeptualisten. Marina Sandmann, die in ihrer Galerie die russische Kunstgeschichte wachhält, schildert das intime Ambiente eines Freundeskreises, in dem sich die Mitglieder gegenseitig solcherart Albumblätter vorführten. „Es herrschte eine warme Atmosphäre in jenem Künstlerkreis“, erinnert sie sich, „man unterstützte sich gegenseitig unbedingt.“ Das war notwendig, drohte doch immer die Gefahr der Inhaftierung – Wjatscheslaw Sisojew kam beispielsweise Mitte der Sechzigerjahre ins Gefängnis.

In fernen Lüften fischen auf Komarows Blättern die Leute Gegenstände auf, „von denen wir oft keine Ahnung haben, was wir damit anfangen sollen“, wie unter einem steht – eine Anspielung auf die Isolation der Sowjetunion, die dazu führte, dass es 99 Prozent ihrer Bürger im Angesicht von Salatschleudern, Spannbettlaken oder Pfeffermühlen den Atem verschlug. Da möbliert Komarow eben die Luft und hält, auf plüschigen Sofas schwebend, artige Teestunden ab.

Nicht umsonst waren Kabakow und auch der ebenfalls in der Ausstellung vorgestellte Wiktor Piwowarow in der Sowjetunion beliebte Kinderbuch-Illustratoren. Neben der ironischen Kulturkritik herrschte in ihrem Kreis ein starker Trend zur Darstellung ganz privater Momente. In Piwowarows jetzt zum ersten Mal öffentlich gezeigten Album „Eros“ bleibt ein Salon einfach leer. Allein die Schatten, die zwischen den üppigen Möbeln immer tiefer werden, erzählen zusammen mit den Textunterzeilen von Verzweiflung, Hoffnung und Erwartung. Irgendwann heißt es dann: „Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.“ Ab da verschlägt es dem Text die Sprache, und die Formen werden abstrakt und ekstatisch.

Sex zu thematisieren war damals in der Sowjetunion ebenso tabu wie der spielerische Umgang mit Militärsymbolik. Die Konzeptualisten warfen nicht nur einen ironisch distanzierten Blick auf ihr Land, sie feierten gleichzeitig händereibend ihr Sowjetinsidertum. Unter den gezeigten Werken ist eine Wortspielerei, nur für Eingeweihte erkennbar hingepinselt auf genau das Büttenpapier, auf das das ZK damals Urkunden drucken ließ.

Als wäre das Vertrauen in die Ausdrucksfähigkeit des Bildes geschwunden, spielen Sprache und Schrift bei den Konzeptualisten durchgängig eine starke Rolle, werden in manchen Fällen sogar direkt als künstlerisches Material benutzt: so auf den mit der Schreibmaschine getippten Grafiken des auch als Schriftsteller erfolgreichen Dmitrij Prigow. Dessen Grafiken spielen mit den kleinen Verschiebungen, die aus jedem Propagandaslogan sehr schnell Gegenpropaganda machen können. Da wird der Funkspruch „Es sprechen alle Radiostationen der Sowjetunion – Ende“ Zeile für Zeile wiederholt, mal gekürzt, mal erweitert, so dass sich auf dem Blatt eine ungleichmäßige Säule materialisiert. Ganz unten balanciert sie nur noch auf einem schmalen Fuß, auf dem Wörtchen „Ende“.

Die Artefakte der Moskauer Konzeptualisten sind Kammerkunstwerke. In der Galerie Sandmann können wir wie durch ein Zeitfenster noch einmal ins Innere dieser Kammer blicken, auf die zundrige Oberfläche dünner werdenden Papiers. Als die Perestroika die sowjetischen Grenzen öffnete, erfüllten diese Künstler ihre Träume und flogen in alle Welt. Ihr Zusammenhalt war nicht mehr notwendig.

Galerie Sandmann, Linienstraße 139–140, Di.–Fr. 14–18 Uhr, Sa. von 12–8 Uhr, bis 17. Juni