: Fast wie in einem richtigen Hafen
taz-Serie „Hafenstadt Berlin“ (Teil 2): Am Westhafen zwischen Moabit und Wedding herrscht jeden Tag ein reges Treiben. Vier Millionen TonnenGüter werden hier jährlich umgeschlagen. Nur mit Wasser hat das meiste nichts zu tun. Ein Großteil der Waren wird per Bahn oder Lkw angekarrt
von NINA APIN
Die Karte der mitteleuropäischen Wasserstraßen im Fenster der Schiffergemeinde am Westhafen stammt noch aus Vorwendezeiten, dicke graue Linien markieren die Landesgrenze zur DDR. Auf leicht vergilbten Aushängen kündigt die Schiffer- und Hafenkirche noch Tanz in den Mai an. Eine Staubschicht aus nostalgischer Seemannsromantik liegt auch auf dem Pförtnerhäuschen der Berliner Hafen- und Lagergesellschaft Behala. In dicken Lettern verwirren rätselhafte Fachbegriffe wie „Wasserbau Dükerbau Kampfmittelräumung“ den Besucher, der freundliche Pförtner wirkt mit seiner riesigen Goldrandbrille und dem Halskettchen wie aus den Siebzigerjahren gefallen.
Doch die Hafenromantik täuscht: Das hübsche dunkelbraune Klinkergebäude mit der Aufschrift „Hafengaststätte“ steht leer. Wo es früher Mittagstisch und Bier für die Hafenarbeiter gab, ist jetzt ein moderner Konferenzraum mit gepolsterten Stühlen und Beamer für Firmenbesprechungen der Behala, die den Hafen betreibt.
Gegessen wird jetzt bei Brummi’s Imbiss direkt am Eingang. Um die Mittagszeit hat sich eine lange Schlange vor dem weißen Imbisswagen gebildet. Männer in Arbeitskleidung bestellen Curry-Bulette für 1,60 Euro oder Schnitzel mit Kartoffelsalat. Sie stellen sich zum Essen an einen der Stehtische mit Fußballtischdecke. Wie ein Matrose sieht keiner von ihnen aus. Klaus trägt Wollpulli und Jeans, er bestellt bei Brummi einen Pott Kaffee, „damit der Motor wieder läuft“. Zigarette dazu, mehr braucht er nicht, sagt er.
Klaus ist müde, er ist Lkw-Fahrer und gerade aus Luxemburg angekommen. Vom größten Luftfrachtzentrum Europas hat er für die Logistikfirma ACL Elektrozubehör zum Westhafen transportiert und vor Lagerhalle 1 geparkt. Jetzt ist sein Fahrtenschreiber voll und Klaus muss vor der nächsten Fuhre die gesetzlich vorgegebenen 24 Stunden Pause machen. Übernachten wird er direkt am Hafenbecken, in seinem Lastwagen. „Abends, wenn alle Arbeiter weg sind, ist es herrlich ruhig hier unten“, sagt er. Essen wird er bei Brummi oder bei Ramona, die weiter unten im Hafengelände eine zweite Imbissbude betreibt. Sein Feierabendbier wird er sich später an der Tankstelle holen müssen: Seitdem das alte Hafen-Casino letztes Jahr schloss, gibt es im Westhafen keine Kneipe mehr. „Lohnt sich nicht“, wirft Brummi, der hinter der Theke steht, ein, „für teures Essen hat keiner mehr Geld. Und abends hauen sowieso die meisten ab.“
Wenn Klaus nicht Ruhepause hätte, würde auch er direkt von Lagerhalle 1 auf die Beusselstraße einbiegen und auf die A 100 fahren, zum nächsten Auftrag. Der Westhafen ist nicht zum Verweilen gedacht. Er ist ein Umschlagplatz, an dem jährlich rund 4 Millionen Tonnen Güter umgesetzt werden, 2,3 Millionen davon per Lastwagenverkehr, 824.000 Tonnen per Bahn und nur 780.000 Tonnen auf dem Wasserweg. Behala-Geschäftsführer Peter Stäblein nennt den Westhafen ein „trimodales City-Güterverkehrszentrum“ und lobt die gute Anbindung an Hamburg, Unna und Stettin.
Die Behala plant, Berlins größten Hafen zu einer logistischen Drehscheibe für den West-Ost-Verkehr auszubauen. Bis Ende 2007 soll das bestehende Containerterminal auf die doppelte Kapazität erweitert werden, die Hafenanlage bekommt eine neue Krananlage und neue Bahngleise. Der Ausbau wird vor allem den Straßen- und Schienenverkehr betreffen. Bislang beliefern täglich zwei Züge den Westhafen mit Containern: Ein Zug geht an die Umzugsfirma Zippel, der zweite fährt für DHL und bringt Waren für KarstadtQuelle-Häuser der Umgebung. Nach dem Ausbau sollen fünf bis acht Züge am Tag durch den Hafen rollen.
Schon jetzt erinnert das Gelände mehr an einen Fuhrpark denn an einen Hafen. Zwischen dem Werk, wo Siemens Turbinen baut, den Brennstofflagern und der Bauschutt-Entsorgungsstelle fahren Schwertransporter, Lieferwagen und Tanklaster umher. Die großen Containerschiffe vor dem Betonwerk sind vom Hafenbecken aus nicht zu sehen, nur die denkmalgeschützten Klinkerbauten aus den 20er-Jahren des vorigen Jahrhunderts verbreiten ein wenig Hafenromantik. In Halle 1 wurde mittlerweile der Inhalt von Klaus’ Lastwagen verstaut. Lagerarbeiter Ingo Samstag hat bereits die Zollplombe aufgebrochen, die Ware auf Vollständigkeit überprüft und die Kartons in der Halle verstaut. Jetzt wartet er mit der Checkliste in der Hand darauf, dass Klaus seinen Wagen wegfährt und einem Kollegen mit polnischem Kennzeichen Platz macht, der einen Teil der Ware sofort in die Großmärkte ausliefert. Was genau in all den Kisten ist, die gut die Hälfte der imposanten, denkmalgeschützten Klinkerlagerhalle füllen, darüber hält sich Ingo Samstag bedeckt: „Handys, MP3-Player und andere Elektrogeräte für große Firmen“, sagt er.
Im angrenzenden Getreidespeicher ist die lagernde Ware mindestens genauso wertvoll, aber weniger diebstahlanfällig: Seit 1997 ist dort die Zeitungsabteilung der Staatsbibliothek ansässig. Auf 24.000 Quadratmetern lagern deutsche und ausländische Tages- und Wochenzeitungen. Der älteste der etwa 180.000 Originalbände, die man im Lesesaal einsehen kann, sind die ab 1740 erschienenen Berlinischen Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen. Die acht Speicheretagen beherbergen auch das geheime Staatsarchiv und dienen während der Bauarbeiten am Haus Unter den Linden als Zwischenlager.
Das Büro von Abteilungsleiter Joachim Zeller ist voller großer lederner Sammelbände, Mikrofilme und kostbar aussehenden Originalen. Vor dem Fenster sieht man die Lkw hin und her fahren. „Die Kollegen vom rollenden Gewerbe haben die Schiffer arbeitslos gemacht“, seufzt der weißbärtige Bibliothekar. Trotzdem liebt er die konzentrierte und unakademische Atmosphäre am Westhafen. Abgeschieden findet er seinen Arbeitsplatz nicht. Immerhin 9.000 Besucher im Jahr verirren sich in den Getreidespeicher, „wer erst einmal zum Arbeiten hier war, kommt gerne wieder“, sagt Zeller. Vom Lesesaal aus kann man durch die runden Fenster die historische Getreide-Vakuumpumpe besichtigen. Und auf dem Rückweg ein paar Möbel beim angrenzenden Lagerverkauf mitnehmen.
Den Hafen verlassen kann man allerdings nur auf dem Landweg. Das Ausflugsschiff, das im Hafenbecken ankert, wird hier nur für die nächste Rundfahrt gewartet. Der Lkw-Fahrer Klaus hat inzwischen am Kai geparkt und schaut vom Führerhaus aus übers Wasser. Und gerät ins Grübeln: „Wenn man sich den Verkehr wegdenkt, ist es fast wie in einem richtigen Hafen.“