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Archiv-Artikel

„Er war eine ständige Überforderung“

KUNST Ein Gespräch mit Klaus Biesenbach über die große Retrospektive auf Christoph Schlingensief in Berlin

Der Kurator

■ Klaus Biesenbach, der mit Anna-Catharina Gebbers und Susanne Pfeffer die Schlingensief-Ausstellung organisiert und entwickelt hat, ist Hauptkurator am Museum of Modern Art in New York. Seine Karriere startete er als Mitbegründer der Kunst Werke e. V. Anfang der 1990er Jahre. In den Atelierwohnungen der alten Margarinefabrik in der Auguststraße 69 in Berlin-Mitte brachte er neben dem Modemacher Hedi Slimane, der Autorin Susan Sontag auch Christoph Schlingensief unter, der hier wieder einen Filmclub 69 organisierte (der erste war in Mülheim).

INTERVIEW SANDRA UMATHUM

sonntaz: Wann wurden Sie zum ersten Mal auf Christoph Schlingensief aufmerksam?

Klaus Biesenbach: Anfang der 1990er Jahre gab es eine ungeheure Debatte über seine Filme. Sie waren eine inhaltliche und formale Herausforderung, und ich hatte den Eindruck, dass hier jemand eine ganz eigene Form findet. Nachdem Christoph von Matthias Lilienthal eingeladen wurde, an der Berliner Volksbühne zu inszenieren, lernten wir uns kennen. Das war 1994/95. Damals wurde mir bewusst, dass er weniger mit dem Medium Film oder Theater arbeitet. Sein Medium und sein Material waren die Öffentlichkeit.

Ihre erste größere Zusammenarbeit war 1997 bei der documenta X.

Mit Nancy Spector und Hans-Ulrich Obrist habe ich dort den „Hybrid Workspace“ durchgeführt. Wir luden Christoph nicht als Filme- oder Theatermacher ein, sondern als Performance-Künstler. Einen Tag nachdem Lady Di verunglückt war, wurde er kurzzeitig verhaftet, weil er ein Schild mit der Aufschrift „Tötet Helmut Kohl“ verwendete. Für mich war das eine Überforderung. Mein Rechtsanwalt rief mich an: „Die wissen nicht, dass das eine Kunstaktion ist.“ Aber es war alles Kunst. Ich selbst war jedoch so in diese Logik verstrickt, dass mein Rechtsanwalt sagte: „Du konntest das auch nicht mehr trennen, sonst würdest du jetzt nicht mit mir telefonieren.“

Für viele besaßen Christoph Schlingensiefs Bildstörungen und die daraus resultierenden Überforderungen großen Reiz.

Christoph war immer eine Bildstörung, eine ständige Überforderung. Ich wusste nie, ob vor mir der Performer, die Rolle Schlingensief oder mein langjähriger Freund steht. Selbst um vier Uhr morgens, wenn du ein falsches Wort sagtest, führte er dir vor, dass deine Gedanken falsch sind. Diese kritische Distanz hat er nie aufgegeben.

Welche Bedeutung hatte Schlingensiefs Teilnahme an der documenta X für seine weitere Arbeit?

Anfangs hat Christoph sehr mit dem Kunstbereich gehadert. Er fragte immer: Was ist das? Ist das die Produktion von Objekten? Sind das Gemälde, Zeichnungen, gerahmte Fotos? Ist das eine Galerie, an die ich Kunst verkaufe? Interessiert hat ihn hingegen der erweiterte Kunstbegriff, mit dem er bereits als Kind bei einem Vortrag von Joseph Beuys in Berührung gekommen war. Dessen Materialisierung sah er in der Kunstszene jedoch nicht. Mit der Einladung zur documenta bot sich ihm erstmals die Gelegenheit, selbst an einem erweiterten Kunstbegriff zu arbeiten.

Ähnlich wie beim Theater, wo er ebenfalls an dessen begrifflicher Erweiterung arbeitete.

Im Grunde hat Christoph aus seiner Geburtsstadt Oberhausen zwei Köfferchen mitgebracht. Ein Köfferchen war der Messdiener, die Gottesfürchtigkeit, die Religion. Das andere Köfferchen war die familiäre Kunstpraxis, die vom Vater, der Mutter und einigen anderen inspiriert war.

Das dritte Köfferchen war vielleicht das, was er den Krankheitskörper Deutschland nannte.

Krankheit spielte bei ihm eine immense Rolle. Er hatte Angst davor und musste sie sofort diagnostizieren. Genauso musste er auch die Fehlfunktion von Systemen, Personen, Parteien und Zuständen analysieren und obsessiv sezieren. Es galt, am lebendigen Patienten zu operieren.

Sie beschäftigen sich viel mit der Frage, wie sich ephemere Live-Ereignisse repräsentieren lassen. Bei Schlingensiefs Arbeiten haben sich nicht selten verschiedene Schauplätze überlagert und verselbständigt. Wie lässt sich das durch Bilder und Filme darstellen?

In der Retrospektive zeigen wir seine Fernsehsendungen und im Club-Programm all seine Filme. Außerdem gibt es die Installationen, die auch ohne ihn funktionierten. Die größte Herausforderung liegt sicherlich bei seinen Aktionen im öffentlichen Raum. Hier haben wir versucht, verschiedene Ebenen der Repräsentation zu berücksichtigen. Wir stellen bewegte Bilder, Zusammenfassungen sowie Foto- und Filmdokumente aus. Die öffentliche Resonanz, die Christophs Performances bedingten, beziehen wir ebenfalls mit ein.

Worin liegt für Sie das Singuläre an Schlingensiefs Arbeiten?

Singulär ist er für mich insofern, als er Film, Theater, Aktion, Installation, Fotografie oder Buch und Hörspiel nie um der reinen Form willen gewählt hat, sondern sie immer mit dem relevantesten Inhalt versah. In fast missionarischem Auftrag wollte er herausfinden, in welcher Situation wir uns befinden, was an ihr nicht richtig ist, wie man sie ändern oder sich in ihr verantwortlich verhalten kann. Darin war er kompromisslos.

Was auch einer der Gründe dafür war, dass er oft selbst auftrat? Damit er gegensteuern konnte, wenn es zu gemütlich, zu übersichtlich wurde?

Christoph hat die Realität immer wieder neu hergestellt, indem er das Stück live vor dem Publikum umschrieb. Weil er diese Unruhe hatte. Wenn er etwas Gutes dachte, musste er sofort das Böse mitdenken. Und wenn alles überzeugend schien, hat er in diesem Augenblick das denkbar Böseste gesagt. Er hat dir den denkbar größten Gegensatz um die Ohren gehauen. Im Bösen das Gute und im Guten das Böse mitzudenken, hat natürlich viel damit zu tun, dass man Jekyll und Hyde ist, immer beides.

Und das Besondere an ihm war, dass er dabei nie überheblich vorging, oder? Er thematisierte seine eigene Verunsicherung stets mit.

Grenzgängerisch

■ Retrospektive: Heute Abend eröffnet in den Kunst-Werken Institute for Contemporary Art in Berlin die große Retrospektive des vor zwei Jahren verstorbenen Filmemachers, Theaterregisseurs, Aktionskünstlers, Hörspielautors, Installationskünstlers, Musikers und Opernregisseurs Christoph Schlingensief. Sie läuft bis 19. Januar und bietet Einblick in ein grenzgängerisches Werk, das stets auch eine Reaktion auf die gesellschaftlichen und politischen Streitfragen seiner Entstehungszeit war.

■ Karriere: Seine Karriere als Theaterregisseur begann Schlingensief 1993 mit dem Stück „100 Jahre CDU – Spiel ohne Grenzen“ an der Volksbühne Berlin. 1998 gründete er die Partei „Chance 2000“. Posthum wurde ihm de■ r Goldene Löwe der Biennale di Venezia für den besten Beitrag verliehen. In seiner Geburtsstadt Oberhausen gibt es inzwischen eine Christoph-Schlingensief-Straße und eine Christof-Schlingensief-Schule.

■ Katalog der Ausstellung erscheint bei Koenig Books, London.

Am meisten hat sich Christoph selber verunsichert. Irgendwann hat er einmal zu mir gesagt: Wenn du eine Fragestellung hast, musst du eigentlich den Kopf gegen die Wand schlagen, um herauszufinden, ob es so oder so ist. Diese Metapher ist mir in Erinnerung geblieben. Das Denken als schmerzhafter Prozess. Weil es sich gegen dich selbst richten kann, wenn du alle Alternativen mitdenkst. Selbst wenn du meinst, das Richtige zu tun, kann es das Falsche sein.

Wie kann man dies Misstrauen gegenüber Eindeutigkeiten und Reduktionen des Komplexen in einer Ausstellung zeigen?

Christoph hat hierfür in seinen Arbeiten, etwa im „Animatograph“, Formen gefunden. Du gehst durch diese Installation und schneidest den Film, während du ihn zum ersten Mal siehst. Zur selben Zeit bist du als Schattenriss an der Wand. Du bist schon drin, während du den Film selbst mit hervorbringst. Du bist alles gleichzeitig: Täter und Zeuge, Richter und Anwalt, Akteur und ein Beobachter, der sich nicht aus dem Zusammenhang befreien kann.

Obwohl seine einzelnen Arbeiten sehr verschieden sind, kennzeichnet sein gesamtes Werk eine große Kohärenz.

Weil Christoph inhaltlich und formal immer mit Überblendungen, Collagen, Überlagerungen, Doppel- und Mehrfachbelichtungen gearbeitet und damit eine visuelle Überforderung produziert hat. Außerdem ziehen sich sein Kunstbegriff und sein Menschenbild konsequent durch die gesamte Arbeit. Nicht zuletzt hat er Ästhetiken von Social Media oder YouTube vorweggenommen. Auch das wird in der Ausstellung deutlich.

Im nächsten Jahr wird die Ausstellung in New York gezeigt. Da sich Schlingensief immer auf konkrete Zustände bezog, sind seine Arbeiten auch Zeitdokumente. Wie lässt sich das in einem anderen gesellschaftlichen Kontext vermitteln?

Höchstwahrscheinlich wird nicht alles zu verstehen sein, wenn man nicht jeden Zusammenhang kennt. Aber es ist auch eine Eigenschaft von Kunst, sich autonom zu behaupten. Meine Aufgabe ist es, Arbeiten auszuwählen, die nicht nur eine Form für den zu einer Zeit relevanten Inhalt, sondern eine nicht obsolet werdende Form gefunden haben. Vor allem möchte ich aber vermitteln, dass er ein Künstler mit einem gesellschaftlichen Auftrag war. Im Augenblick vermisse ich das in der Kunstszene, und in dieser Hinsicht kann Christoph hoffentlich eine Inspiration sein.