: „Die Angst, nicht rauszukommen“
Niemand ist davor gefeit, in einer Menschenmasse plötzlich auszurasten, sagt der Charité-Psychiater Frank Wendt. Darüber Vorhersagen zu treffen ist aber unmöglich
taz: Herr Wendt, der Amoklauf nach der Eröffnung des Hauptbahnhofs wirft angesichts der kommenden Fußball-WM die Frage auf: Wie wirken Menschenmassen auf Einzelpersonen?
Frank Wendt: Ganz unterschiedlich. Es gibt viele Menschen, für die solche Massenveranstaltungen eine enorme Attraktion sind. Spaß, Unterhaltung – solche Erwartungen sind damit verbunden. Man geht in der Regel nicht davon aus, dass das Ereignis negative Auswirkungen hat.
Können Sie die positiven Aspekte erklären?
Es hat etwas Ansteckendes, wenn Menschen in guter Stimmung sind. Das reißt einen mit. Denken Sie an ein Konzert, wenn man gemeinsam eine gute Zeit verbracht hat.
Gemeinschaft ist für das Glücksgefühl wichtig?
Dazugehören wollen ist ein wichtiges menschliches Bedürfnis. Man ist Teil einer Gruppe – mit solchen Ideen wird ja auch viel Werbung getrieben.
Werbung oder Schindluder?
Die Werbung benutzt Gefühle und Bedürfnisse. Machen wir uns nichts vor: Wenn Sie konsumieren, sind Sie in Deutschland Teil der Gesellschaft. Erst wenn man die Leute dafür gewinnen kann, bei etwas mitzumachen, entsteht ja eine Masse. Sei dabei. Mach mit. Steh nicht abseits.
Welche negativen Reaktionen sind in einer Menschenmenge möglich?
Es gibt nicht den Menschen schlechthin, der in Massen Probleme hat. Aber aufgrund einer Störung kann sich jemand in eine Entgrenzungssituation kommen; er kann Panikattacken in der Menge entwickeln: Ich komm nicht raus, ich muss ersticken, keiner kann mir helfen – solche Gefühle. Das kann so weit gehen, dass einer Wahn in Handlung gießt und die Menge für sein Tribunal benutzt. Etwa nach dem Motto: Ich werde abgehört, aber dieses Mal lasse ich mich nicht mundtot machen.
So ein Amoklauf ist demnach immer ein Einzelfall?
Ob der Vorfall am Hauptbahnhof ein Amoklauf war, muss man erst noch sehen. Bei Amok müssen soziokulturelle Aspekte mitgedacht werden.
Gehen Sie davon aus, dass jemand, der bei Menschenmassen mit Kontrollverlust reagiert, psychisch vorbelastet ist?
Es könnte Ihnen auch passieren, dass Sie das in so einer Situation zum ersten Mal erleben. In der Regel ist es aber so, dass Menschen, die eine Angststörung haben, nicht zu derartigen Veranstaltung gehen.
Kann man aus Ihrer Sicht präventive Maßnahmen ergreifen, um Attacken – sei es autoaggressiver oder nach außen gerichteter aggressiver Art – einzukalkulieren?
Bei Großveranstaltungen ist es gang und gäbe, dass geschaut wird, dass niemand mit Gegenständen, die als Waffe benutzt werden können, reinkommt. Hundertprozentige Sicherheit wollen alle, der Preis aber wäre die totale Überwachung. Das ist dann wie in dem Film „Minority Report“: Sie werden für einen Mordgedanken schon sicherheitsverwahrt.
Wie soll man reagieren, wenn man merkt, da ist jemand kurz vor dem Ausrasten?
Als Erstes sollten Sie Gleichgesinnte suchen, weil Sie ja gar nicht wissen können, was los ist. Jemand in einer Entgrenzungssituation kann große Kräfte entwickeln. Da ist es gut, wenn Sie Hilfe im Rücken haben. Mal salopp gesagt: Wir haben alle unsere Sensoren, was gut und was schlecht ist. Denen sollten man vertrauen. Wir können ja jetzt nicht alle Workshops machen, wie man Psychosen erkennt.
Interview: Waltraud Schwab