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Archiv-Artikel

Auf dem Lehrpfad

Kommt und bildet euch: Das Londoner Museum Tate Modern präsentiert seine Sammlung seit vergangener Woche in einer neuen Hängung

VON JULIA GROSSE

Nun hat die Tate Modern sie doch für sich entdeckt, die „Ismen“. Und die Mitarbeiter des Museumsshops waren dieser Tage eilig dabei, sie endlich aus ihren Versandkartons zu befreien: Surrealismus, Futurismus, Minimalismus, alles in kompakter Buchform. Sechs Jahren nach der Eröffnung des von Herzog & de Meuron umgebauten ehemaligen Kraftwerks stellt Londons Kulturwunder Tate Modern ein neues Konzept für seine Sammlung der Kunst des 20. Jahrhunderts vor.

Der Schritt wurde mit großer Spannung erwartet. Immerhin war das Kunstkraftwerk an der Themse nicht nur bekannt für seine spektakuläre Architektur. Vor allem das ungewöhnliche Präsentationskonzept der eigenen Sammlung war für die über 20 Millionen Besucher der vergangenen Jahre gewöhnungsbedürftig: Anstatt die Arbeiten in einer klassischen Chronologie zu präsentieren, hatte man sich für eine freie Zusammenstellung entschieden. So konnte es vorkommen, dass ein Julian Opie neben einem Duchamp stand. Für Kritiker steckte hinter der Einteilung in Themenblöcke wie „landscape/water/enviroment“ oder „nude/body/action“ vor allem das Überspielen der lückenhaften Sammlung. Spätestens mit der Wiedereröffnung des MoMA als Sinnbild des historischen Museums mit Bildungsauftrag wurde die Kritik an der offenen Form, wie man sie an der Themse pflegte, lauter.

„Müssen wir deshalb gleich ein Geschichtsmuseum werden?“, raunt ein Tate-Aufseher mürrisch und deutet auf die Wände im großen Aufgangsbereich, auf denen ab sofort ein enormes Diagramm zur zeitlichen Entwicklung der modernen Kunst prangt. Angefangen bei 1900 geht es in Zehnerschritten voran, ziehen sich die „Ismen“ und Künstlernamen vorbei an den Rolltreppen. Bei 2000 hört es vorerst auf, Thomas Demand und Kara Walker stehen noch da. Die Tate Modern nimmt in Zukunft den Besucher auf seinem Gang durch die Sammlung mehr an die Hand. So gibt es vier neue Bereiche, „Poetry and Dream“ und „Material Gestures“ auf der dritten Etage sowie „States of Flux“ und „Idea and Object“ auf Etage 5. Jeder dieser Bereiche gruppiert sich um einen historischen Schlüsselmoment künstlerischer Produktion: Bei „States of Flux“ sind das Kubismus, Futurismus und englischer Voritzismus, „Poetry and Dream“ widmet sich dem Surrealismus, „Material Gestures“ konzentriert sich auf Neue Malerei und Skulptur der Nachkriegszeit mit Abstraktem Expressionismus und Informel, und unter „Idea and Object“ kommen europäische wie amerikanische Werke des Minimalismus zusammen.

Wenn man nun also vor Mondrians „Composition C (No. III) with Red, Yellow and Blue“ (1935) steht und im nächsten Raum plötzlich Anri Salas Film „Damni i Colori“ (2003) läuft, in dem der Bürgermeister der albanischen Hauptstadt Tirana Häuserfassaden mit bunten Quadern bemalen lässt, dann wird einem als Besucher dieser „Dialog“ auf den Infotafeln erklärt.

Diese Art der Paarung zweier Künstler aus verschiedenen Generationen markiert ab sofort jeden der vier neuen Themenbereiche. So begegnen sich am Anfang von „States of Flux“ Umberto Boccionis kraftvoll nach vorne stampfende, maschinenhafte Bronzefigur (1913) und Roy Lichtensteins aufgeblasene Kriegscomicszene, „Whaam!“ (1963). Zwei, so verrät die Infotafel dem Besucher, gewaltsam und emotional aufgeladene Bilder absoluter Technologie und Macht. Sehr schön funktioniert diese Gegenüberstellung bei Louise Bourgeois und Francis Bacon; die Skulpturen und Gemälde der beiden Künstler verschlingen sich psychisch und physisch ineinander.

Ein Zugewinn ist die Entscheidung, ins Zentrum der vier neuen Schwerpunkte immer einen großen Raum zu stellen, der die Arbeiten der jeweiligen Schlüsselmomente umfasst und um den sich kleinere Bereiche gruppieren, die darauf als historische Vorläufer oder nachfolgende Phasen Bezug nehmen. Ein Höhepunkt ist der riesige Surrealistenraum, in dem sich der tatsächliche Reichtum der Sammlung in seinem ganzen Umfang präsentiert. Die Schätze erstrecken sich über die Wände, Miró neben Magritte, Skulptur neben Gemälde, ein kleinformatiger Dalí bei einem großen Max Ernst. Eine weitere, grandiose Überraschung ist der „Rothko-Raum“. In diffuser Dunkelheit hängen schwer und groß die rot-schwarzen Gemälde, die der Künstler 1958 ursprünglich für das Restaurant des „Four Seasons“ in New York malte, dann aber der Tate schenkte.

Obwohl auch das neue Konzept die Gewichtung nicht immer ersichtlich macht, tut die Trendwende der Tate Modern gut. Denn erstmals wird dem Besucher ein Pfad durch die Sammlung gelegt. Ob er ihn beschreiten und mehr über die vielen neuen „Ismen“ erfahren will oder einen entspannten Tag in Londons spektakulärem Museum verbringen will, das bleibt ab sofort ihm selbst überlassen.