Hinter dem Fenster

Der Historiker des Holocausts: Raul Hilberg, Autor der klassischen Studie „Die Vernichtung der europäischen Juden“, feiert seinen 80. Geburtstag

VON RUDOLF WALTHER

Einer seiner akademischen Lehrer, der Emigrant Hans Rosenberg, war ein Kenner der preußischen Verwaltung und vermittelte dem Studenten Raul Hilberg eine zentrale Einsicht: „Das Beamtentum macht alles, und zwar hinter dem Fenster.“ Wie kein anderer Historiker widmete sich Raul Hilberg zeitlebens der Erforschung des bürokratischen Charakters und der aktenmäßig „sauberen“ und korrekten Protokollierung der nationalsozialistischen Judenvernichtung.

Nichts wurde dem Zufall überlassen. Der Transport der Juden quer durch Europa geschah nach Einsatzplänen, an denen Abertausende von Beamten in der Verwaltung, bei der Polizei, in der Wirtschaft, bei der Armee und bei der Reichsbahn beteiligt waren. Die Beamten machten buchstäblich alles, und „hinter den Fenstern“ erfanden sie obendrein eine eigene Sprache, die den Plan zum Massenmord mit Vokabeln wie „Sonderbehandlung“ kaschierte und den Tätern das gute Gewissen verschaffte, einen normalen Aktenvorgang vorschriftsmäßig abzuwickeln.

Zu Recht ist Hilbergs Buch „Die Vernichtung der europäischen Juden“ heute ein Klassiker. Aber wie es dazu wurde, wirft ein eher beschämendes Bild auf viele Beteiligte. Hilberg begann seine Arbeit 1948 und promovierte 1955 mit einem Viertel der später fast tausend Seiten starken Buchfassung. Er erhielt dafür den Preis für die beste Dissertation des Jahres an der Columbia University. Trotzdem dauerte es noch volle sechs Jahre, bis das ganze Manuskript nach einer abenteuerliche Odyssee durch amerikanische Verlage als Buch herauskam. Die Fachleute rezipierten es nach 1961 zwar auch in Europa, aber es blieb ein Geheimtipp. Bereits 1963 kaufte die deutsche Verlagsgruppe Droemer/Knaus die Buchrechte, lehnte aber eine Veröffentlichung 1965 definitiv ab.

Erst 1982 erschien das Buch in der vorzüglichen Übersetzung von Christian Seeger im kleinen linken Verlag Olle & Wolter, der sich mit dem Riesenprojekt finanziell prompt überhob und das prächtig ausgestattete, 840 Seiten umfassende Buch mangels Vertriebserfahrungen verramschen musste. 1990 setzte der Lektor Walter H. Pehle im Fischer-Verlag gegen allerlei Widerstände durch, dass das Buch in einer preiswerten, erweiterten und überarbeiteten Taschenbuchausgabe erscheinen konnte.

Raul Hilberg, der heute seinen 80. Geburtstag feiert, wurde in Wien geboren und floh 1939 mit seinen Eltern über Paris und Kuba in die USA. 1944 kam er als Soldat nach Europa und war an den Nürnberger Prozessen beteiligt. Mit Sarkasmus, aber ohne Bitterkeit oder Neid, blickt Hilberg heute auf die Holocaust-Forschung zurück. Zu seiner Zeit war das ein Außenseiterthema. Und heute werden Bücher, die sich wie „Hitlers willige Vollstrecker“ von Daniel Goldhagen wissenschaftlich gesehen auf dem Stand von 1946 befinden, sofort weltweit zu Bestsellern.