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Archiv-Artikel

Ohne 34 nach Paris

TOUR DE FRANCE Genau so viele Radprofis sind allein in den ersten fünf Monaten dieses Jahres vom Sattel geholt worden. Und das nicht, weil sie bei Rot über eine Kreuzung gesprintet sind. Ist die Tour de France noch zu retten?

VON JÜRGEN FRANCKE

In vier Wochen ist es wieder so weit: Eine Großgruppe scheinbar durchtrainierter Männer steigt aufs Rad, zu allem entschlossen. Guckt diesmal kein Schwein? Ach was. Fragen wir lieber: Was werden die armen Seelen, die vorm Fernseher hocken oder am Straßenrand stehen, überhaupt zu sehen bekommen?

Zunächst einmal so etwas wie business as usual. Der Prolog am 3. Juli wird in Rotterdam angeschossen. Wie originell. Beim diesjährigen Giro d’Italia ging’s in Amsterdam mit einem Einzelzeitfahren los. Und die Spanienrundfahrt 2009 startete in Assen, Niederlande. Die Tour de France 2010 führt im Uhrzeigersinn über 3.600 Kilometer. Brüssel wird besucht, ein kurzer Ritt über das Kopfsteinpflaster von Paris nach Roubaix steht auf dem Programm, und der 2.115 Meter hohe Col de Tourmalet wird gleich zweimal angefahren.

Und? Wer macht in diesem Jahr mit? Für normalsterbliche Sportinteressierte ist das nicht leicht zu durchschauen. Sicher, auch diesmal fahren 22 Teams durchs schöne Frankreich. Aber wer weiß denn, welcher Fahrer bei welchem Team gerade nicht wegen Dopings gesperrt ist? Allein im Jahr 2010 sind – bis zum Ende des Giros am 30. Mai – 34 Fahrer vom Radelbetrieb ausgeschlossen worden. Entweder fanden ihre Vergehen in diesem Jahr statt oder sie wurden erst jetzt bekannt. Franco Pelizotti von Liquigas gehört zu ihnen, genau, der war bei der vergangenen Tour „Bergkönig“. Viele der bisherigen Träger des gepunkteten Trikots haben nach Strich und Faden betrogen. Richard Virenque, Michael Rasmussen oder Bernhard Kohl: alle Gewinner der Bergwertung, und allen wurde Doping nachgewiesen.

Könnte jedoch sein, dass beim Thema Doping viele Zuschauer das Weggucken bevorzugen: Schnauze voll – aber die Tour will ich trotzdem sehen. Eine gefährliche Einstellung. Zu glauben, dass die, die letztendlich am 3. Juli losfahren dürfen, schon irgendwie sauber seien, kommt dem Vogel-Strauß-Verhalten sehr nahe. Spätestens in diesem Jahr sollte sich das Publikum zu der Erkenntnis durchringen: Wir werden systematisch hinters Licht geführt. Von organisatorischer und sportlicher Seite. Da kann ein Jens Vogt aus Mecklenburg noch so oft beteuern, sein Radport sei doch eigentlich nur von ein paar Idioten in Verruf gebracht worden.

Und nun kommt auch noch einer der größten Fahrrad fahrenden Betrüger überhaupt daher und will sein Gewissen reinwaschen. Der Tour-Sieger von 2006, der Amerikaner Floyd Landis, gab unlängst zu, über weite Strecken (sic) seiner Karriere verbotene Mittel genommen zu haben. Nebenher beschuldigt er auch noch den besten Radprofi aller Zeiten und Galaxien, also Lance Armstrong, es ebenso gemacht zu haben. Diese Majestätsbeleidigung konterte Armstrongs alter und neuer Busenfreund und Teamchef Johan Bruyneel umgehend. Der Boss des neuen, Armstrong-finanzierten Rennstalls RadioShack bezeichnete Landis als „cholerischen Lügner“. Dass der Weltradsportverband UCI allerdings gegen Bruyneel selbst und mindestens drei weitere Teamchefs ermittelt, das ließ der aufgebrachte Belgier bei seiner Tirade unerwähnt. Ebenso die Tatsache, dass US-amerikanische Bundesbehörden Lance Armstrong auf der Spur sind. Wobei es da längst nicht mehr nur um die Einnahme oder Weitergabe von Dopingmitteln geht, auch um Betrug und Verschwörung. Armstrong soll unter anderem verbotene Substanzen mit Sponsorengeldern bezahlt haben. Kriminelle Kaliber, die weit strenger bestraft werden, als wenn ein wenig mit EPO nachgebessert wird.

Für die UCI, den Ausrichter der Tour, die Sponsoren und die Radsport-Industrie wäre ein Fallenlassen des Superstars Armstrong der Super-GAU. Schließlich geht es um die globale Vermarktung des Radrenn-Zirkus. Die mit riesigen Zuwächsen rechnenden Märkte in Asien und den USA sind auf diese Galionsfigur angewiesen. Vergessen wir auch die Medien nicht. Als sich „Mr. Planet Armstrong“ unlängst bei der eher zweit- oder drittklassigen Kalifornien-Rundfahrt auf die Nase legte, ging ein Aufstöhnen durch die Presse. Man konnte das Flehen förmlich hören: Es muss doch wohl ein Mittelchen zu beschaffen sein, das unseren Pedal-Heroen schnellstmöglich wieder in Form bringt.

Wie wär’s damit: Auch wenn man nicht sofort die Freigabe aller, legalen und illegalen, Substanzen einfordert („Ist sowieso alles egal“), könnte man doch wenigstens einen Etikettenschwindel beseitigen. Warum heißt die „Tour de France“ nicht ab sofort „Tour of Armstrong“? Oder, um es den Franzosen erträglicher zu machen: „Tour de Bras Fort“.