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Archiv-Artikel

Ende der Öde

AUFBRUCH Lange galt Oberschöneweide als abgemeldet. Jetzt ziehen Künstler in die Fabrikhallen. Kann sich fern der Innenstadt ein Szenekiez entwickeln?

Podiumsdiskussion

■ „Gentrifizierung – wohin entwickelt sich Schöneweide?“ – unter diesem Motto findet am 11. Dezember um 19 Uhr eine Diskussionsrunde im Industriesalon Schöneweide, Reinbeckstraße 9, statt. Auf dem Podium sitzen der Sozialwissenschaftler Andrej Holm (Humboldt-Uni), Regionalmanager Thomas Niemeyer und der für Stadtentwicklung zuständige Stadtrat Rainer Hölmer (SPD).

VON UWE RADA

Es ist eins dieser Bilder, die in die Adventszeit gehören: Umgeben von leer stehenden Fabrikhallen, mehrfach geflickten Asphaltwegen und drohend glotzenden Fensterlöchern, trotzt ein kleiner Vorplatz der Nacht.

Nele Jonca, die im Pförtnergebäude des ehemaligen Fabrikgeländes das „Café Schöneweile“ betreibt, hat Kabeltrommeln hergerollt. Auf die Seite gekippt, dienen sie als Tische für Kerzen, Kaffee und Glühwein. Über einer Feuerschale backen Kinder Stockbrot. „Freitagsfeuer“ nennt Jonca das kollektive Aufwärmen auf dem einstigen Werksgelände des Volkseigenen Betriebs Transformatorenwerk Oberschöneweide. Doch der VEB TRO ist Geschichte. Nun firmiert das Areal als „Schauhallen“ – und wagt den Sprung in ein neues Zeitalter.

Nele Jonca ist in Sachsen geboren, aufgewachsen ist sie in Prenzlauer Berg. Dort hat sie auch die Wende erlebt. „Als ich gefragt wurde, ob ich in Oberschöneweide ein Café aufmachen will, bin ich erst mal erschrocken“, erinnert sich die 31-Jährige. „Ich wusste gar nicht, ob das noch Berlin ist.“

Inzwischen gehört sie dazu – zu diesem melancholischen Stadtteil, dieser früheren Industriestadt, über die Walther Rathenau, Sohn des AEG-Gründers Emil Rathenau, gesagt hat: „Spreeathen ist tot und Spreechicago wächst heran.“ Südlich der Wilhelminenhofstraße erstrecken sich die Fabriken aus der Gründerzeit bis zur Spree. Nördlich davon ist Mietskasernenland. Industrie und Wohnen, ganz nah beieinander.

So jedenfalls war es bis zur Wende. Alexander Osang, der meisterliche Porträtist des Alltags, hat den Arbeiterbezirk in der Zeit der Abwicklung durch die Treuhand festgehalten. „Um sechs duscht die Nachtschicht des Kabelwerks, um sechs leiert Jörg Wietrychowski die grauen Rollos seiner Kneipe hoch“, schrieb Osang in einer Reportage über die Stumpfe Ecke, die Arbeiterkneipe am Rathenauplatz. „Früher, als im KWO noch fast sechstausend Leute gearbeitet haben, drängte sich um diese Zeit schon eine geduschte Menschentraube vor der Tür. Heute steht da niemand anderes als die dunkle Nacht.“ Heute, muss man ergänzen, gibt es auch keine Stumpfe Ecke mehr: In den Räumen ist eine „Baguetteria“.

So war das, als die Lichter ausgingen. Nele Jonca weiß nicht viel über diese Zeit. Während Oberschöneweide vergessen wurde, wurde Prenzlauer Berg entdeckt. Und heute? „Ein bisschen ist es hier wie in den Neunzigern am Prenzlberg“, sagt sie und weiß selbst nicht so genau, wie das alles enden wird.

Aber Jonca spricht sich Mut zu. Eigentlich ist sie Schauspielerin, aber den Beruf hat sie vorerst an den Nagel gehängt. Hat im Einstein gelernt, wie man guten Kaffee zubereitet, und will nun im Pförtnerhäuschen den Praxistest bestehen. „Es läuft immer besser“, sagt sie und fügt hinzu: „Vor ein paar Wochen war Bryan Adams auf einen Kaffee hier.“

Ein Image, grau wie Ruß

Auch Thomas Niemeyer hat die Zeit, über die Osang schrieb, als die Kerle nicht mehr aus Stolz über die vollbrachte Schicht, sondern aus Frust in der Stumpfen Ecke tranken, nie kennengelernt. Aber der Phantomschmerz ist noch da, das weiß er. 25.000 Arbeitsplätze gingen nach der Wende verloren, davon 6.000 beim Kabelwerk Oberspree. 30 Prozent Leerstand in den Mietskasernen an der Wilhelminenhofstraße, das Image des Stadtteils so grau wie der Ruß auf den Fassaden. Aus Oberschöneweide war Oberschweineöde geworden. Dann kamen auch noch die Nazis.

„Das waren alles schlechte Nachrichten“, sagt Niemeyer. Doch der 40-Jährige, der mit einem alten Sportwagen auf den Hof der Schauhallen fährt, ist für die guten Nachrichten zuständig. Dass Bryan Adams, der kanadische Rockstar, bei Nele Jonca Kaffee trank, geht auf seine Kappe. Er weiß, dass er damit einen Coup gelandet hat. „Rock me, Oberschöneweide“, titelte die Berliner Zeitung, und ein englischsprachiges Newsportal meinte: „Bryan Adams brings hope to Berlin district.“

Thomas Niemeyer ist ein Profi, ein Ansiedlungsprofi. Einen wie ihn haben sie hier gebraucht. Seit einem Jahr leitet er das regionale Wirtschaftsmanagement, und als der Anruf von Adams’ Büro kam, hatte er eine Idee: „Wir haben ein Boot gechartert und haben ihm die Schauhallen auch vom Wasser aus gezeigt.“

Das war im Juni. Nun wird in der Adams-Halle schon gewerkelt. „Er ist auch Fotograf und hat einige Fotografenfreunde in Berlin“, weiß Thomas Niemeyer. „Die haben hier ihr Atelier.“ Auch einen ersten Termin hat der Musiker schon absolviert. Mit seinen Kollegen hat er ein Shooting für die neuen Opel-Marken gemacht. Oberschöneweide sells.

Genau genommen begann die Wiederbelebung von Oberschöneweide zur selben Zeit, als Uschi Marr in die Mathildenstraße zog. Das war 2009, damals wurde ein paar Steinwürfe weiter der neue Campus der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) eingeweiht. Für Marr hatte sich damit ein Kreis geschlossen: „Zur DDR-Zeiten habe ich auf der anderen Seite der Spree in Niederschöneweide Puppenspiel studiert. Oberschöneweide war damals Arbeiterbezirk. Es war die andere Seite.“

Jetzt sitzt Uschi Marr, inzwischen Ende fünfzig, im Café Benkys in der Rathenaustraße und erinnert sich noch genau an diese Begegnung zwischen damals und heute. „Ich bin nach Berlin zurück, weil sie am Theater in Chemnitz keine feste Stelle mehr für Puppenspieler brauchten. Und für die Mathildenstraße habe ich mich entschieden, weil die Wohnung günstig war und meine Tochter Mathilde heißt.“

Eines Abends erkundete sie den HTW-Campus auf dem Gelände des einstigen Kabelwerks Oberspree. An der Strandbar vor der Mensa trank sie ein Bier. „Das war ein besonderer Moment“, erinnert sie sich. „Drüben lag Niederschöneweide. Ich war auf der anderen Seite gelandet.“

„Der Fluss ist das beste Argument für den Ort, aber auch die größte Verlockung“

Zwar ist die Hochschule mit ihrer internationalen Studierendenschaft noch längst nicht mit dem Kiez verwachsen (s. Text rechts). Aber ohne die HTW, meint Uschi Marr, hätte es Oberschöneweide nicht geschafft. Viele Studenten würden inzwischen auch in den Kiez ziehen, erzählt sie.

Die Preise ziehen an

Und was bringt die Zukunft? „Bei uns im Haus ist ein ständiges Kommen und Gehen“, hat Marr festgestellt, „die Preise ziehen langsam an. Aber mit den Künstlern hat das nichts zu tun, hier ist schon vorher saniert worden.“ Marr will bleiben. Mit ihrer Schwester hat sie in der Nähe einen Garten gepachtet, und dann ist da noch die Wuhlheide. „Das Aufregendste“, sagt sie, „sind aber die alten Fabrikhallen. Die dürfen weder abgerissen noch zu Lofts umgebaut werden.“

Gleich neben dem „Café Schöneweile“ hat der „Industriesalon“ eine Halle auf dem ehemaligen Werksgelände bezogen. Der Salon ist mittlerweile ganz offiziell das Oberschöneweide-Museum. Dabei bräuchte die frühere Elektropolis, mit der Berlins Aufstieg zur Industriemetropole begann, gar kein Museum – sie ist selber eines. Die Geschichte, die Oberschöneweide erzählt, ist die einer sumpfigen Wiese namens „Schöne Weyde“, auf der am Ende des 19. Jahrhunderts Fabriken wuchsen und die sich nun, nachdem die Industriejobs weg sind, neu erfinden muss.

Das fällt nicht jedem leicht, weiß Dietlind Kuntze, die die Besucher des Industriesalons betreut. „Die Leute sind noch immer mit der Industrie verbunden. Fast jeder, der kommt, hat eine Geschichte zu erzählen und bringt irgendwelche Apparate. Das sind meist ältere Herren, die hier als Ingenieure gearbeitet haben.“

Besonders stolz sind die älteren Herren auf die Sammlung des Werks für Fernsehelektronik. Das „WF“, wie alle noch sagen, wurde nach der Wende von Samsung gekauft. 2005, als die Fördermittel des Landes ausliefen, stellte der Konzern die Produktion ein. Das Aus betraf auch die Sammlung alter Bildröhren, die das werkseigene Museum im Turm des von Peter Behrens erbauten Hauptgebäudes ausstellte. „Nun hat die Sammlung bei uns ein neues Zuhause“, freut sich Kuntze.

Inzwischen ist im Industriesalon eine zweite Ausstellung zu sehen. Finanziert aus Lottomitteln, informiert die Schau „Zeitreise durch die Elektrostadt“ über die Geschichte des Stadtteils. Es ist die Geschichte eines rasanten Aufstiegs und eines noch rasanteren Niedergangs. 1997 arbeiteten in Oberschönweide nur noch 1.700 Menschen, zwanzig Jahre zuvor waren es 35.000. Die Einwohnerzahl sank in derselben Zeit von 24.000 auf 15.000.

Für Dietlind Kuntze kommt die Wiederbelebung von Oberschöneweide deshalb gerade rechtzeitig. „Der Stadtteil hat eine Aufwertung dringend nötig“, sagt Kuntze. Eine Verdrängungsbewegung erwartet sie nicht. „Hier gibt es keine Gentrifizierung. Im Gegenteil. Viele Künstler ziehen wieder weg, weil ihr Publikum nicht nach Oberschöneweide rauskommt.“

Das kann Sven Herrmann nicht gut finden. Der frühere Stasi-IM und heutige Immobilienhändler kaufte 2005 das 20.000 große Gelände des ehemaligen VEB TRO. Rund 15 Millionen Euro wollte er in sein Projekt „Schauhallen Berlin. Center of International Contemporary Art“ investieren. Der Regierende Bürgermeister war begeistert: Die geplante Kombination von Museen, Kunstsammlungen und Galerien suche „auch im weltweiten Vergleich ihresgleichen“, schrieb Klaus Wowereit an Herrmann.

Allein: Der große Wurf blieb aus. Auch der Verkauf der vierschiffigen Reinbeckhallen mit 4.800 Quadratmetern Fläche an Ai Weiwei scheiterte – kurz vor Vertragsabschluss wurde der chinesische Künstler in Peking festgenommen. Seitdem backt Herrmann kleinere Brötchen. Die Halle für den Industriesalon hat er zum symbolischen Preis von einem Euro vermietet.

Andere Investoren glaubten weiter an den großen Coup, ärgert sich Regionalmanager Niemeyer. Er steht am Kranplatz, wo einst Kabeltrommeln verladen wurden. Als das Viertel Sanierungsgebiet wurde, baute man ihn zum repräsentativen Platz um. Thomas Niemeyer schaut auf die Spree. „Der Fluss ist das beste Argument für den Standort“, meint er. Allerdings auch die größte Verlockung. „Manche Investoren wollen nur eines: Wohnungsbau. Lofts in den alten Fabriken, schicke Neubauten am Spreeufer; Hauptsache, Wasserblick.“ Diese Investoren will Niemeyer nicht haben. „Wir wollen gewerbliche Nutzung“, sagt er, „produzierendes Gewerbe, Künstler, Kunsthandwerker.“ Gerade erst hat er einen Bronzegießer in eine der leeren Hallen vermittelt.

Fähre vom Osthafen

Das ist Oberschöneweide

■ Oberschöneweide ist ein Stadtteil des Bezirks Treptow-Köpenick mit knapp 20.000 Einwohnern. Links der Spree liegt Niederschöneweide, bekannt als Hochburg der Nazis. In Niederschöneweide befindet sich auch der S-Bahnhof Schöneweide.

■ Die Geschichte Oberschöneweides ist eng mit der Industrialisierung Berlins und der AEG verbunden, die dort 1890 ihr erstes Werk in Betrieb nahm. Bald war die Rede von der Elektrostadt „Elektropolis“. Zu DDR-Zeiten war Oberschöneweide mit den Kombinaten Kabelwerk Oberspree (KWO), Transformatorenwerk Oberspree (TRO) und Werk für Fernsehelektronik (WF) der wichtigste Industriestandort Ostberlins.

■ Nach der Wende brach die Industrie zusammen, der Leerstand nahm zu. Oberschöneweide wurde Sanierungsgebiet. Bis 2007 wurden 80 Prozent der Wohngebäude erneuert.

■ 2009 eröffnete der Campus Oberschöneweide der Hochschule für Technik und Wirtschaft. Heute studieren dort 8.000 Studierende. (wera)

Auch den Bezirk weiß Niemeyer auf seiner Seite. „In den Bebauungsplänen steht ‚Kerngebiet‘, und das soll so bleiben.“ Natürlich dürfe Bryan Adams in seiner Halle übernachten. „Aber er darf dort eben nicht offiziell wohnen oder sich beschweren, wenn ein anderer Künstler um drei Uhr nachts zur Flex greift.“

Auch Lutz Längert hat was gegen Wohnen an der Spree. „Das würde den Stadtteil umkrempeln“, sagt der ehemalige Theatermann, der seit sechs Jahren das Festival „Kunst am Spreeknie“ organisiert. Gegen ein bisschen frischen Wind hätte aber auch er nichts: „Ich habe mir schon oft überlegt, vom Wedding herzuziehen, aber außer ein, zwei Cafés gibt es hier nichts. Nicht mal abends ordentlich essen kann man.“

Wie der Stadtteil hat sich auch Längert auf eine Zeitreise begeben. Allerdings in die entgegengesetzte Richtung: „Die ganzen Initiativen, die Künstler, die Räume, die Preise, das alles erinnert mich schon sehr an die Nachwendezeit in Mitte oder Prenzlauer Berg.“ Der Mann weiß, wovon er spricht: Er hat damals mit dem Verein Förderband die nichtkommerzielle Kulturlandschaft mit aufgebaut, die längst wieder verdrängt wurde. Auch da fing es damit an, dass Promis den „Szenekiez“ für sich entdeckten.

Zwar räumt Längert ein, dass die Sache mit Adams ein großes Ding war: „Da wird es jetzt richtig rumpeln.“ Aber große Sorgen macht er sich nicht um Oberschöneweide. „Noch ist das hier zu weit weg von Mitte“, sagt er und erinnert an die Betreiber des ehemaligen Krancafés auf dem Hochschulgelände – des einzigen Orts, wo man richtig essen gehen konnte. „Die mussten voriges Jahr schließen, weil zu wenig Leute rauskamen.“

Vielleicht ist den Betreibern aber nur zu früh die Puste ausgegangen. Schon in diesem Sommer, freut sich Längert, „wird die Reederei Riedel einen Linienverkehr zwischen Osthafen und Oberschöneweide einrichten. Dann können die Studis aus Friedrichshain mit dem Schiff kommen.“

Auch Nele Joncas Café Schöneweile wird Konkurrenz bekommen. Derzeit verhandeln Thomas Niemeyer und Sven Herrmann mit den Leuten vom Kiki Blofeld. Die Betreiber der ehemaligen Strandbar wurden aus Mitte verdrängt, nun wollen sie nach Oberschöneweide. Nele Jonca schaut auf ihr „Freitagsfeuer“ – und freut sich: „Das macht den Ort attraktiver. Davon werde ich auch profitieren.“