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Archiv-Artikel

Der militärisch-musikalische Komplex

KLANG ALS QUAL Die Veranstaltung „Höre mit Schmerzen!“ erkundete im HAU mit Vorträgen von Steve Goodman und Thomas Levin, einem Konzert und einem DJ-Set die Frage nach dem Zusammenhang von Musik und Folter

Die potenzielle Unendlichkeit der Beschallung lässt Hörkonsum zur Folter werden

VON TIM CASPAR BÖHME

„Music make you lose control.“ Mit diesem Slogan aus ihrem Song „Body Work“ inspirierte die Breakdance-Formation Hot Streak nicht nur Musiker wie Missy Elliot. Ungewollt hat sie damit auch ein Phänomen benannt, das Musik zu einer höchst ambivalenten Kunstform macht. Während sich Menschen im Konzert, im Club oder im Privaten meistens freiwillig den Frequenzen überlassen, sich gar vorübergehend beim Genuss in ihnen verlieren, ist bei unfreiwilliger Beschallung Schluss mit lustig.

Gezielter Kontrollverlust

Im Extrem wird gezielt ein Kontrollverlust herbeigeführt wie auf dem US-Militärstützpunkt Guantánamo, wo man Häftlinge zur Sesamstraßenmelodie folterte. Wo die Grenze zwischen militärischem und zivilem Musikkonsum verläuft, wurde am Samstag und Sonntag im HAU unter dem Titel „Höre mit Schmerzen!“ in Wort und Klang untersucht.

Dass Musik überhaupt ein Gewaltmittel ist, um gezielt den Willen eines Individuums zu brechen, erscheint vielen Menschen übertrieben. Doch wie der Spiegel-Redakteur und Gastkurator Tobias Rapp in seiner Einführung schilderte, sind solche Foltermethoden die extremste Verbindung, die Mensch und Musik miteinander eingehen können. Rapp hatte den einstigen Guantánamo-Häftling Ruhal Ahmed interviewt, der mit Songs von Eminem gefoltert wurde. Die potenzielle Unendlichkeit der Beschallung lässt den sonst vermeintlich unschuldigen Hörkonsum zur Folter werden. Wie Ahmed sagt: „Die Musik übernimmt dein Gehirn.“

Dass es nicht unbedingt eines militärischen Kontexts bedarf, um Musik zur Gewaltform werden zu lassen, war ein Gedanke, der von den Referenten in verschiedener Form aufgegriffen wurde. Rapp verwies darauf, dass Popmusik schon immer Kraft daraus schöpfte, dass Eltern die Hörvorlieben ihrer Schutzbefohlenen als Lärm oder Folter ablehnen.

Der britische Medienwissenschaftler, Buchautor und Musiker Steve Goodman ging in seinem Vortrag noch einen Schritt weiter und sprach, wie in seiner gleichnamigen Studie, von „Sonic Warfare“. Es geht um akustische Kriegsführung als kulturelles Phänomen, das den gesamten „militärischen Unterhaltungskomplex“ von der Folter bis zum Club durchzieht. Er wählte dazu das Bild von Musik als „behavioraler Software“, die man sich durch Hacking aneignen kann. Ihm ging es dabei weniger um die Frage, ob man Musik zu Kriegszwecken nutzt oder nicht. Vielmehr komme es darauf an, welche Stellung man bezieht. Mit seinem DJ-Set zum Ausklang des Eröffnungsabends stellte Goodman, der als Kode9 zu den Pionieren der Clubmusik Dubstep gehört, denn auch eindringlich klar, dass er auf der richtigen Seite kämpft.

Konsum und Gewalt

Auch für den Kultur- und Medienwissenschaftler Thomas Levin von der Princeton University sind alltäglicher Musikkonsum und musikalische Gewaltanwendung auf Engste miteinander verflochten. Als eine Ursache machte der Experte für Kritische Theorie die von Adorno konstatierte „Regression des Hörens“ aus. Statt eines bewussten, analytischen Hörens von Musik als Form der direkten Auseinandersetzung mit Musik dominiere heutzutage ein anästhetischer Umgang mit Musik. Technische Entwicklungen wie „Klangeliminatoren“, die Lärm durch Gegenfrequenzen unhörbar machen und so Klang mit Klang bekämpfen, seien symptomatisch für die heutige musikalische Situation.

Eine direkte Verbindung zwischen der zivilen und der militärischen Verwendung von Musik sieht Levin in Erscheinungen wie „Personal Enhancement Background Music“, Hintergrundmusik, die funktional eingesetzt wird, um Geistes- oder Körperfunktionen zu verbessern. Bei einer solchen Instrumentalisierung von Musik macht es im Grunde keinen Unterschied, ob Soldaten vor ihren Einsätzen HipHop hören, um sich für die Konfrontation mit dem Gegner aufzuputschen, oder ob Mütter sich ein Schwangerschafts-Soundsystem mit Mozart um den Bauch schnallen, damit ihr Ungeborenes im späteren Leben mindestens so klug wie Einstein wird. In beiden Fällen beschränkt sich das Hören auf eine bloße Mittel-zum-Zweck-Funktion, in der ästhetische Kategorien keine Rolle spielen.

Unklar blieb am Samstag hingegen, inwiefern das Konzert des experimentellen Elektronik-Duos Soisong als ästhetischer Beitrag zur Debatte gemeint war. Das Projekt von Throbbing-Gristle-Veteran Peter Christopherson und Ivan Pavlov alias COH beschäftigt sich in seiner Musik weniger mit der Grenze von Unterhaltung und Schmerz als mit dem Verwischen des Unterschieds zwischen elektronischen und akustischen Klängen. Zur Entgrenzung kam es dabei nicht. Laut war es dennoch.