: „Für manche hier ist er ein Held“
Gewalt ist für viele Kinder Alltag, meint Sozialarbeiterin Fatma Celik. Sie betreut den Jungen, der seine Lehrerin schlug
taz: Frau Celik, Sie kennen den 12-Jährigen, der eine Lehrerin der Lemgo-Grundschule geschlagen hat. Ist er ein Rowdy?
Fatma Celik: Eigentlich ist er ein angepasster und lieber Junge, ein Teddybär, der vor allem von den Mädchen geschätzt wird. Andererseits ist er manchmal so aggressiv, dass wir ihn schon bitten mussten zu gehen, weil er sehr brutal wurde.
Was ist denn der Anlass für solche Ausraster?
Wie viele Jugendliche und Kinder hier hat er null Erfolgserlebnisse in seinen wichtigsten Lebensbereichen Schule und Familie. Daher sucht er sich Ventile. Zu uns Betreuern hat er eigentlich ein gutes, respektvolles Verhältnis. Aber wenn es um Konkurrenzkampf geht, rastet er aus.
Zurzeit darf er nicht zur Schule – wie geht er damit um?
Er ist auf der Straße und wird von den anderen Jugendlichen als Held gefeiert, weil er eine Autoritätsperson geschlagen hat.
Was finden die so toll daran?
Sie finden es gut, dass er auf Titelblättern von Zeitungen erscheint, dass er Schlagzeilen macht! Und dass er trotz seiner Körpergröße eine erwachsene Person niedergeschlagen hat. Das ist in ihren Augen eine Heldentat. Übrigens auch für manche Erwachsene.
Verkörpert denn diese Lehrerin ein Feindbild?
Nein, sie ist im Gegenteil hier bekannt und beliebt, weil sie sehr engagiert ist. Hinter der Reaktion steckt der Frust über Schule und Lehrer, den viele hier haben. Sie sind immer nur mit Beschwerden konfrontiert. Es gibt Lehrer, die nicht in der Lage und auch gar nicht bereit sind, mit den Eltern zu kommunizieren. Wir hatten hier letzte Woche einen Jungen, der ins Krankenhaus musste, weil sein Lehrer ihn angegriffen hat. So etwas erscheint in den Medien nicht. Und vor diesem Hintergrund sagen nun manche: Endlich wehrt sich mal ein Kind.
Sie kritisieren, wie Fälle wie dieser in den Medien behandelt werden. Warum?
Die Medien haben den Vorfall sehr skandalisiert. Das unterstützt die aggressive Stimmung. Die Kameras an den Schulen provozieren die Kinder und Jugendlichen: Jetzt hat sich einer profiliert, da wollen die anderen auch mal im Mittelpunkt stehen. Selbst wir Betreuer sind in den letzten Tagen von Jugendlichen bedroht worden, mit Sprüchen wie „Pass auf, du bist die Nächste“ oder „Nimm deine Brille ab, wenn wir uns prügeln“.
Wie gehen Sie damit um?
Wir haben Erfahrung mit Aggressivität, aber diesmal hatte ich zum ersten Mal Angst. Eine gewisse Hemmschwelle, wirklich skrupellos gewalttätig zu sein, ist verschwunden.
Wie kommt das?
Gewalttätigkeit ist für viele Jugendliche zu einer Überlebensstrategie geworden, nicht nur hier in unserem Kiez. Sie haben keinerlei Perspektiven, erleben nur Misserfolge. Dazu kommt, dass sie viel Gewalt erleben: Über neue Medien wie Handys haben schon Kinder Zugang zu Sachen, die für sie nicht altersgemäß sind. Und auch in der Familie gibt es Gewalt. Oft trauen sie sich gar nicht zu Hause von ihren Problemen zu erzählen, damit sie nicht noch mehr Schläge kriegen.
INTERVIEW: ALKE WIERTH