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Archiv-Artikel

dream team (4) Zusammenrotten und genießen

Da war diese vorletzte EM. Ich schaffte es immer gerade so zum Anstoß von der Unibibliothek nach Hause. Was heißt nach Hause. Vors Haus. Da hatten meine Mitbewohnerinnen die WG-Glotze auf das Kopfsteinpflaster der Gasse gestellt, es gab Bier, und man saß auf Kisten und Kästen. Niemandem musste man zum Geburtstag gratulieren, mit niemandem ein Problemgespräch führen und niemandes diskursive Bälle möglichst clever zurückspielen. Die Abende waren herrlich lau, Foucault und Deleuze waren brav in der Bibliothek geblieben, die Bälle bedienten andere.

Da war diese letzte WM. Wir schafften es immer gerade so, zum ersten Spiel um zwei Uhr mittags aufzustehen – die scheppernden Nationalhymnen aus den geöffneten Fenstern der Nachbarn taten das ihrige. Regelmäßig verkatert schleppten wir uns in das kleine Vereinsheim auf der Rambla und gaben der Zeit bis zur nächsten Ausgehnacht das wenige, was sie brauchte: ein flüchtiges „Guten Morgen“, Kaffee, Orangensaft, Tortilla, die erste Zigarette des Tages und hin und wieder einen belanglosen Spielkommentar. Auch die älteren spanischen Herren in Hut und Anzug und die badebeschlappten Engländer auf dem Weg zum Strand waren nicht auf mehr aus. Die Finnen und Chilenen, die kreativ sein wollten in der Stadt, waren sogar ohne „eigene“ Mannschaft immer da. Schweigsam starrten sie auf den TV-Rasen und nagten stundenlang an ihren Schinkensandwiches. Ob sie sich überhaupt für Fußball interessierten, wurde nie richtig klar. Dass es gut war, dass sie da waren, war klar.

Man muss sich nicht wirklich für Fußball interessieren, um Fußball zu brauchen. Fußballgucken ist einfach in therapeutischer Hinsicht effizienter als eine Gruppenfahrt nach Taizé, nächtelanges Clubbing oder selbstgemachter Mannschaftssport. Ein Fußballspiel – bei mir funktioniert nur Schwergewichtiges wie Länder-, Uefa-Cup- und Champions-League-Spiele – liefert aus sich selbst heraus gute Gründe: fürs Faulsein, fürs Nicht-schlausein-Müssen, fürs Sich-absorbieren-Lassen, fürs Nicht-Verwerten. Vor allem fürs Unter-Leuten-Sein. Eine WM ist da besonders vielversprechend: gleich vier Wochen lang keinen Anlass suchen, um sich zu treffen, vier Wochen keine Furcht vor ausgehendem Gesprächsstoff. Unverstelltes Genießen selbstverständlicher Zusammenrottung. Wenn WM ist, nehmen sich solche hübschen Probleme wie zwanghaftes Streben nach optimierter Performanz in sozialer Interaktion eine Auszeit.

In einer Woche schon wird der Eisverkäufer wie vor zwei Jahren den Fernseher auf den Bürgersteig vor seinen Laden getragen haben, ich werde ohne zu überlegen hintrotten, nonchalant die Hand zum Gruß heben, der Bildschirm wird grün werden, jemand wird in eine Pfeife blasen – und ich werde einfach so mittendrin da sein. KIRSTEN RIESSELMANN