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Archiv-Artikel

Die Muskeln der Straße

Im Grips Theater zeigt Zoran Drvenkar mit seinem Stück „Cengiz und Locke“, wie das Leben eines jungen Migranten aus dem Ruder läuft – und dass es Freundschaft jenseits von Herkunftsgrenzen gibt

von CHRISTIANE KÜHL

Dass Cengiz von sich nur in der zweiten Person spricht, nervt auf Dauer, hat aber durchaus Gründe. Zum einen verläuft sein Leben geradezu exemplarisch: „Du wirst geboren, wächst auf und bist ’n kleiner Haufen Scheiße.“ Zum anderen wahrt dieses Du eine schöne Distanz zum eigenen Dasein, die der 15-Jährige spätestens seit dem Tag spürt, als er aus dem fahrenden Auto auf die Yugo-Disco schoss und kurz darauf die einzige Zeugin mit einem Bauchschuss im Hausflur verblutet. „Jetzt ist es so weit“, spürt Cengiz da, „jetzt gehörst du dazu. Zu den Gangstern, die immer auf der Flucht sind.“ Da ist sein Leben Film geworden. Was in seinem Kiez fast einer Auferstehung gleichkommt.

Cengiz ist einer der Titelhelden von Zoran Drvenkars Jugendroman „Cengiz und Locke“. Er ist Türke, nennt sich aber Mongole, vermutlich weil das nicht so nach Kanacke klingt. Locke heißt eigentlich Matthias und ist sein Freund – das heißt, er wird es werden. Vorerst sind die beiden nur in derselben Berliner Straßengang und regen sich auf über „die Yugos“, die in ihrem Kiez „den Macker schieben“. Das schreit nach Randale. Pubertät, penetrante Eltern und Perspektivlosigkeit scheinen sich unweigerlich zu Prügel zu addieren. Eins in die Fresse. Willst du Ärger, komm näher.

Zoran Drvenkar kennt diese Welt, auch wenn er heute mit seiner Nickelbrille und dem langen Pferdeschwanz so aussieht, als regierten sein Leben ausschließlich „Imagine“-Poster. Mit drei Jahren kam der heute 39-Jährige aus Kroatien nach Berlin, und die Erfahrung von Ausschluss/Einschluss ist in vielen seiner Bücher präsent. Schon sein Erstling, „Niemand so stark wie wir“, wurde 1999 mit dem Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis ausgezeichnet; sein letzter Erfolg war das Drehbuch, das er gemeinsam mit dem Autor Gregor Tessnow für Detlef Bucks Neukölln-Film „Knallhart“ verfasste. Nun hat er seinen 2002 erschienenen, 300 Seiten starken Roman „Cengiz und Locke“ für das Grips Theater dramatisiert. Nach Ruetli-Panik, 12-jährigen Lehrerinnen-Schlägern und 16-jährigen Amokläufern kommt das Stück zum Thema Jugendgewalt natürlich gerade recht.

Frank Panhans setzt in seiner Inszenierung von Anfang an auf Energie und Dynamik. Eine Djane (dj Vela) ist durchgängig im Zentrum der Bühne an den Turntables, mal Situationen untermalend, mal evozierend. Die Testosteron-Rituale der Jungs, die den ersten Teil des Stücks weitgehend bestimmen, sind von Katja F. M. Wolf famos choreografiert und ebenso beeindruckend von den elf Schauspielern umgesetzt worden: Abchecken, Rempeln, Flirten, Breakdance oder Kloppen – alles ist Muskeln und Sex auf der Straße.

Es macht Spaß zuzusehen. Aber eine Inszenierung, die im fünften Gang startet und nur Gas gibt, kann auch ermüden. Vor allem, da sich lange kein Konflikt entwickelt, sondern Konflikt hier einfach ist: Wir – die, Mädchen – Jungs, Eltern – ich. Der häufige Wechsel der Erzählperspektive, der den Roman interessant macht, fällt im Theater schon deshalb aus, weil der Zuschauer notgedrungen immer nur von außen draufschaut.

Doch nach der Pause gelingt ein Kurswechsel. Zum einen verdichtet sich die Handlung mit dem Tod des Mädchens zu einem echten Thriller. Cengiz wird verdächtigt und verfolgt, in Wahrheit aber verraten. Parallel wird, ein wenig entschleunigt, eine Geschichte von Freundschaft erzählt: von Locke (Jens Modalski), der zu Cengiz hält, obwohl dieser ein Mädchen erschossen hat, und Cengiz (Daniel Jeroma), der Locke mag, obwohl dieser ihm zutraut, ein Mädchen erschossen zu haben. Was er nicht getan hat.

Die Kluft der Herkunft bleibt. Cengiz wird von seinem konservativen türkischen Vater aus dem Haus geschmissen; Locke, im Gegenteil, kann sich seiner klettenden allein erziehenden Mutter nicht erwehren. Sie kommen aus verschiedenen Welten, doch die Sehnsüchte der Pubertierenden sind gleich: „Manchmal wünsche ich mir, dass es niemanden mehr auf der Welt gibt außer mir. Alle sind verschwunden, aber alles funktioniert noch. Strom und so.“ Wünsche, an die auch das erwachsene Publikum durchaus andocken kann.

Nächste Vorstellungen: 14. bis 17. Juni, Grips Theater, Altonaer Straße 22