„Das war der Zündfunke“

INTERVIEW STEFAN REINECKE
UND CHRISTIAN SEMLER

taz: Herr Herbert, vor zwanzig Jahren löste ein Text von Ernst Nolte den Historikerstreit aus. Es ging um das Bild der NS-Zeit?

Ulrich Herbert: Auch. Nolte schrieb, dass der Nationalsozialismus eine Art putative Notwehr des europäischen Bürgertums gegen den Bolschewismus gewesen sei – und insofern der Mord an den europäischen Juden zumindest nachvollziehbar sei. Das provozierte empörte Reaktionen. Noltes These war völlig unhaltbar, in jeder Hinsicht. Die Nazis bekämpften in ihrer Frühzeit den Liberalismus, den Bolschewismus verstanden sie als Variante des liberalen, internationalen Weltsystems. Zudem implizierte diese These, dass Nolte die Einheit von Judentum und Bolschewismus akzeptierte. Doch der Streit weitete sich schnell über die Kritik an dieser abstrusen These hinaus aus.

Warum?

Weil es um mehr ging. Die Kohl-Regierung hat Mitte der Achtziger eine gezielte, kraftvolle Geschichtspolitik betrieben und versucht, das Trauma NS-Zeit durch ein positiveres Geschichtsbild zu ersetzen. Man wollte die Geschichts-Hegemonie der Linken brechen. Beispielhaft dafür waren Kohls Auftritt mit Mitterrand in Verdun und in Bitburg mit Reagan, wo auch Soldaten der Waffen-SS begraben waren. Seitdem stand Kohl auch bei Liberalen unter dem Verdacht des Geschichtsrevisionismus.

Also war der Historikerstreit ein politischer Kampf um das Selbstverständnis der Republik, der zufällig von Historikern ausgetragen wurde, aber wissenschaftlich unwichtig war?

Nein. Richtig ist, dass damals Konservative den Linken vorwarfen, die NS-Zeit zu instrumentalisieren, und Linke, wie Habermas, den Konservativen, sie zu verdrängen. Das war ein Hintergrund der Debatte. Und Noltes Text hat da gewirkt wie ein Zündfunke im Pulverhaus. Aber ein wichtiger Effekt der Debatte war die Erkenntnis, dass der Holocaust zwar viel debattiert und gedeutet worden war, aber wenig erforscht.

Warum war das so?

Weil der Mord an den Juden in die Fronten der Studentenrevolte und dann des Kalten Krieges geraten war. Seit 1968 setzte sich die westdeutsche Linke nicht mehr mit der NS-Vergangenheit auseinander, sondern sie betrieb „Faschismusanalyse“ in der Tradition der kommunistischen Linken. Das NS-Regime wurde auf diese Weise zu einer Variante „bürgerlicher Herrschaft“. Das kann man eine Phase der zweiten Verdrängung nennen – diesmal von der Linken. Sie hat erst in den 80ern und ihrem Auflösungsprozess die NS-Zeit als komplexes und zu erforschendes Phänomen wiederentdeckt. Zwischen den späten 60ern und den frühen 80ern gibt es nur wenig substanzielle deutsche NS-Forschung. Der heiße Kern der deutschen Vergangenheitsbearbeitung – der Mord an den Juden – ist also umgangen worden. Im Historikerstreit wurde er wieder sichtbar.

Nach gängiger Lesart haben die Linksliberalen, die Auschwitz im Zentrum des bundesdeutschen Selbstbilds verortet wissen wollten, den Historikerstreit gewonnen. Stimmt das?

Na ja. Mit der begründeten Zurückweisung der Nolte’schen Thesen war ein Punkt markiert, hinter den es kein Zurück gab. Die Rechtfertigung des Holocaust als Maßnahme gegen den Bolschewismus wird seither nur noch von offenen Neonazis vertreten. Allerdings stieg zunächst nur die Anzahl der Leute, die über Holocaust redeten, nicht aber die Kenntnisse. Das begann sich dann aber nach dem Historikerstreit allmählich zu ändern. Das Interesse an dem tatsächlichen, detaillierten Geschehen nahm deutlich zu. Raul Hilbergs Arbeiten wurden erst jetzt breiter wahrgenommen. Und viele jüngere deutsche Wissenschaftler begannen mit Forschungsarbeiten über diese Fragen.

Überschätzen Sie nicht die Rolle der historischen Forschung für das allgemeine Bewusstsein?

Die Forschung reagierte hier vor allem auf ein deutlich angestiegenes gesellschaftliches Interesse. Bis dahin war sie vielfach auf Herrschaftsstrukturen verengt und das Konkrete blieb ausblendet. Auch die Schuldfrage war ja eine abstrakte Debatte. Erst seit den späten 80ern gab es vermehrt Arbeiten, die genau hinsahen: Was geschah in Galizien am 15. Oktober 1941?

Was sah man dort?

… handelnde und leidende Individuen mit Name, Adresse, Biografie. Zum Beispiel, dass an diesem Tag in einem Dorf bei Lemberg Juden zur Erschießung aus dem Getto herausgetrieben wurden. Den Weg dorthin haben Wehrmachtsoldaten und deutsche Polizisten abgesperrt – und Mitarbeiter der deutschen Sparkasse.

Zumindest diese Erkenntnis sollte man Daniel Goldhagen zugute halten.

Ja – und nein. Seine eigenen Recherchen waren ziemlich bescheiden. Aber immerhin hat die Goldhagen-Debatte das Augenmerk der Öffentlichkeit auf die richtige Frage gelenkt.

nämlich dass viele Deutsche am Judenmord beteiligt waren …

Ja, nicht „die Deutschen“, kein abstraktes Kollektiv – sondern eine benennbare Gruppe von sicherlich 200.000 Menschen, die am Judenmord unmittelbar beteiligt waren. Damit wurde ein weiterer Punkt markiert, hinter den man nicht mehr zurückkonnte: Der Judenmord war kein abstraktes Geschehen, das im Geheimen von wenigen Intensivtätern betrieben wurde. Ein dritter Punkt wurde mit der Diskussion über die Wehrmachtsausstellung erreicht: Die Wehrmacht hatte erheblichen Anteil an diesen Verbrechen. So konstituierte sich schrittweise ein Konsens über die NS-Vergangenheit, sowohl in der Wissenschaft als auch in der Öffentlichkeit.

Mit diesem Konsens scheinen auch die Skandalisierungen zu verschwinden, die die NS-Debatten immer antrieben.

Nicht unbedingt. Vielmehr hat sich das Skandalisierungspotenzial verschoben – zu den Deutschen als Opfer von Luftkrieg und Vertreibung. Dabei wird versucht, den erreichten NS-Konsens stehen zu lassen, aber ihm eine parallele Erzählung über deutsche Opfer entgegenzusetzen. Das ist neu. Früher wurde mit dem Hinweis auf den Bombenkrieg die Anklage wegen deutscher Verbrechen delegitimiert.

Hat dieser Ansatz Erfolg?

Das ist ein offener Prozess. Die berechtigte Frage lautet, in welches Verhältnis wir die Deutschen als Opfer und Täter setzen. Dabei ist es falsch, die Opfererfahrung abzukapseln. Ich bin selbst Vertriebenenkind – da kann ich nicht sagen: Diese Vergangenheit will ich nicht. Wir brauchen eine Einordnung und Analyse der Vertreibungsverbrechen – schon um sicher zu sein, dass die nächste Generation uns nicht fragt: Warum habt ihr diese Leiche im Keller?

Wie sieht die Zukunft der NS-Forschung aus?

Besonders interessant ist, was derzeit in den damals von den Nazis besetzten europäischen Ländern passiert. Dort wackeln vielerorts lieb gewonnene Selbstbilder. In Dänemark etwa wird die wirtschaftliche Rolle im Zweiten Weltkrieg problematisiert. Warum war in Holland die Zahl der getöteten Juden so viel höher als in den Nachbarländern? Das sind Bausteine eines europäischen Geschichtsdiskurses.

die früher unmöglich gewesen wären, weil sie in Deutschland als Entlastungsdiskurs gewirkt hätten.

Ja. In Frankreich, Italien, Holland etc. wird verstärkt nach Kollaboration und eigenen Beteiligungen gefragt. In Zukunft wird es einen Diskurs geben, der Osteuropa einschließt, der sich mit den NS-Verbrechen und den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts befasst.

Ein Indiz dafür war der Streit zwischen dem jüdischen Deutschen Salomon Korn und der lettischen Politikerin Sandra Kalniete. Korn kritisierte, dass die Letten bis heute ihre Beteiligung am Judenmord nicht eingestehen, Kalniete, die ihre Kindheit im Gulag verbrachte, dass die Repression im Osten im Westen niemand interessiert. Wer hat Recht?

In gewisser Hinsicht beide. Wir müssen die beiden großen Massenverbrechen und Totalitarismen in Europa im 20. Jahrhundert aufeinander beziehen. Das ist, nicht nur wissenschaftlich, ungeheuer kompliziert. Zum Beispiel Litauen. Dort wurde das Bürgertum – auch das jüdische Bürgertum – von den Sowjets nach der Annexion durch Stalin 1940 deportiert. Die lettischen Nationalisten protestierten gegen diese Deportation. Als aber 1941 die Wehrmacht einmarschierte, erschlugen lettische Nationalisten mit Deutschen zusammen auf dem Marktplatz die Angehörigen der Deportierten – weil sie Juden waren. So verhakt ist das.

Nolte hatte also in allem Unrecht – aber das richtige Thema?

Nein. Die These des „kausalen Nexus“, also dass der Bolschewismus die Nazis bedingt hat, ist absurd und anachronistisch. Aber wir müssen natürlich erklären, warum in Europa im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts die furchtbarsten Mörderregime der Weltgeschichte entstanden, und wie sie aufeinander bezogen sind. Wir müssen NS-System und Stalinismus als eigenständige Antworten auf die Herausforderungen der Moderne begreifen.

Die NS-Zeit scheint mit dem Holocaust-Mahnmal endgültig historisiert zu sein. Und jetzt? Alles normalisiert?

Man sollte das Mahnmal nicht unterschätzen. Es ist Ausdruck von etwas Exzeptionellem, auch Verstörendem. Es zeigt, dass diese Republik das „Nie wieder“ zu einer Grundlage ihrer Staatsräson gemacht hat. So etwas gab es, soweit ich sehe, in der Geschichte noch nie. Und diese Grundlage ist stabil: Mittlerweile machen sogar die Migranten-Fragebögen in Hessen eine kritische Haltung zum Holocaust zur Pflichtaufgabe.

Allerdings steht die Pflicht, über die NS-Zeit etwas zu wissen, in Widerspruch zur Ahnungslosigkeit, was deutsche Geschichte ansonsten angeht.

Das glaube ich nicht. Noch nie haben sich in Deutschland so viele Menschen mit Geschichte beschäftigt. Denken Sie nur an die vielen Geschichtssendungen im TV, nicht nur über die NS-Zeit. Schauen Sie ins Ruhrgebiet, das sich teilweise in eine Art riesiges Industriedenkmal verwandelt hat. In Berlin habe ich manchmal den Eindruck, dass es sich in ein Museum des Totalitarismus verwandelt.

Woher rührt das stete Interesse an Geschichte?

Generell ist es so, dass sich historisches Bewusstsein insbesondere dann entwickelt, wenn etwas bewiesen werden muss. Als nach 1918 in deutschen Universitäten ein regelrechter Mittelalter-Wahn ausbrach, diente das, nach Versailles, vor allem dem Nachweis der ewigen Größe des Deutschtums. Dieses Phänomen gibt es bei fast allen unbefestigten, fragilen Nationen: Denken Sie an den Schah, der sich in Iran als Nachfolger von Xerxes inszenierte. Und in einem Land mit so fragiler Identität wie Deutschland nach der Wiedervereinigung darf einen das eigentlich nicht wundern.

Glücklich das Land, das keine Geschichte braucht?

… vielleicht nicht ganz so viel Geschichte braucht. Mir wäre jedenfalls eine Gesellschaft mit etwas mehr Gegenwartsbewusstsein lieber.