: Über den Schreibtisch gezogen
Schlechte Ärztin oder Betrügerin: Vor dem Hamburger Landgericht muss sich eine Internistin verantworten, die vier Patienten unnötigerweise der Dialyse unterzogen haben soll
von ELKE SPANNER
Viermal die Woche zwei Stunden Blutwäsche, das ist ein Schock. Nie hat sich Marion D. so krank gefühlt wie in dem Moment, als sie plötzlich, von einem Tag auf den anderen, ans Dialysegerät sollte. Schon von Kindheit an war sie nierenkrank, und natürlich stand die Blutwäsche als stete Drohung im Raum. Doch diese Zukunft wähnte sie noch fern. Jetzt sitzt die 55-Jährige auf der Zeugenbank des Hamburger Landgerichts und sagt gegen die Ärztin aus, der sie einst ihr Vertrauen schenkte. Cassandra S. ist angeklagt, vier Patienten über Monate hinweg an eine künstliche Niere gelegt zu haben, obwohl das medizinisch nicht notwendig war. Bereicherungsabsicht unterstellt ihr die Anklage, und Marion D. tut es auch. Sie hat die Ärztin angezeigt.
1996 eröffnete Cassandra S. ihre Praxis in Hamburg-Horn. Fachärztin für Nephrologie war die damals 37-Jährige nicht, nur Internistin. Nach eigenen Angaben hatte sie aber eine Prüfung abgelegt, die ihr „die Abrechnung der Dialyse“ ermöglichte. Ab dem 14. Juli 1997 lag auch Marion D. bei ihr am Blutwäschegerät. Sie sei sich nicht sicher gewesen, ob dieser Schritt erforderlich sei, räumt Cassandra S. vor Gericht ein. Sie habe sich damals dazu entschlossen, weil sie die Symptome von Marion D. „alarmierend fand“. Sie gesteht, heute zu wissen, „dass es eine Fehlentscheidung war“.
Die Nierenerkrankung von Marion D. wurde entdeckt, als sie im Teenageralter war. Immer wieder litt sie an Blasenentzündungen. Antibiotika zu schlucken, gehörte zu ihrem Alltag fast dazu. Mit 15 dann kam die Diagnose. Seither alle paar Wochen zum Nierenarzt, regelmäßig, 22 Jahre lang. Als ihr Nephrologe in Rente ging, kam sie in die Praxis von Cassandra S. Kaum hatte sie im Februar 1997 an deren Schreibtisch Platz genommen, kam die Ärztin auf die Dialyse zu sprechen, sagt Marion D. Sie war erstaunt, überrumpelt, aber hinterfragt hat sie die Entscheidung nicht. Marion D. ist keine Frau, die viele Fragen stellt. „Ich habe gedacht, Ärzte haben ein Gelübde abgelegt, da kann man ihnen vertrauen.“
Rund 240-mal liegt sie fortan auf dem Behandlungsstuhl, gefesselt an eine Maschine, die das Blut aus dem Körper saugt und gereinigt wieder in die Adern pumpt. Fünf Patienten liegen gleichzeitig am Gerät, man kennt sich, plaudert – was sonst soll man all die Stunden tun? Weil es in den Räumen von Cassandra S. zu einem Wasserschaden gekommen war, wird Marion D. im Oktober 1998 in die Praxis eines Kollegen im Stadtteil Bergedorf überwiesen. Den Andeutungen einer dortigen Krankenschwester, dass die Dialyse bei ihr fragwürdig sei, schenkte Marion D. keine Beachtung. Bis sie eines Tages während der Blutwäsche der Leidensgenosse von der Liege gegenüber angesprochen habe: Sie sehe immer so gut aus, habe er gesagt. Und gefragt, wie denn ihre Blutwerte seien. Sie habe sie ihm genannt, und er sie sehr erstaunt angeblickt. „Da sind Sie aber über den Tisch gezogen worden“, habe er erwidert. Da habe sie sich sofort abklemmen lassen.
Wenn sie über ihre Erlebnisse spricht, ist Marion D. sehr aufgebracht. Sie bemüht sich, sachlich zu erzählen, aber die Wut bricht sich immer wieder Bahn. Die 55-Jährige war früher Verkäuferin in einem Geschäft für Modeschmuck. Dann hat sie ihrem Mann im Büro ausgeholfen, inzwischen ist auch das vorbei. Mehrmals die Woche stundenlang verkabelt in der Arztpraxis liegen – mit einer regelmäßigen Arbeit ist das nur schwer zu vereinbaren. Cassandra S., sagt Marion D., habe ihr Leben „verpfuscht“. Sie spricht über das Vertrauen, das sie falsch investierte und das die nachfolgenden Ärzte sich erst wieder mühsam bei ihr erarbeiten müssen. Das Zivilgericht hat längst anerkannt, dass die regelmäßige Blutwäsche damals nicht erforderlich war und Medikamente ausgereicht hätten. Vor zwei Jahren wurde Marion D. rund 30.000 Euro Schmerzensgeld zu erkannt.
Nachdem Marion D. Strafanzeige erstattet hatte, durchsuchten Ermittler die Praxis von Cassandra S.: Krankenakten wurden beschlagnahmt, vier Fälle sind inzwischen vor Gericht. Um 431.726,45 Mark soll die Ärztin sich bereichert haben. Der sachverständige Nephrologe kommt zu dem Schluss, dass alle vier Dialysen zum eingeleiteten Zeitpunkt nicht erforderlich waren.
Auch nicht jene des Patienten Volker H. Der 63-Jährige aber hat Cassandra S. nicht angezeigt. Er versteht nicht einmal, warum er jetzt im Zeugenstand gegen seine Ärztin aussagen soll. Er verteidigt sie, obwohl sie ihn laut Gutachten unnötigerweise der Tortur unterzog. Das Wort Vertrauen fällt auch bei ihm, aber er hält daran fest, sein Vertrauen den richtigen Medizinern geschenkt zu haben. So verfolgt die Anklage die Rechte eines Geschädigten paradoxerweise gegen dessen erklärtes Interesse.
Die Frage, wie es ihm unter der Blutwäsche ging, findet er „irgendwie merkwürdig“, sagt Volker H.: „Wenn man eine Dialyse bekommt, weiß man, dass es einem ohne schlechter geht.“ Die Diagnose habe auch nicht Cassandra S. gestellt, sondern zuvor ein Arzt im Krankenhaus, in das er als Notfallpatient kam. Dass er die Blutwäsche bei S. durchführen ließ, sei eine reine Standortentscheidung gewesen. Nein, darüber groß gesprochen hätten sie nicht. „Da gab es nichts mehr zu besprechen.“
Cassandra S. verteidigt sich mit dem damaligen Stand der Wissenschaft. Man sei davon ausgegangen, dass ein frühzeitiger Beginn der Blutwäsche sinnvoll sei, um Folgeerkrankungen zu vermeiden. Der Sachverständige widerspricht. So ist Cassandra S. entweder eine schlechte Ärztin oder eine Betrügerin. Wirklich rehabilitiert wird sie aus dem Prozess nicht hervorgehen – wie auch immer er ausgeht.