: „Alles, wonach man sich sehnt“
Anlass: eine neue CD. Hintergrund: derselbe alte Bullshit wie in den Achtzigern. Ein Gespräch mit Green Gartside, dem Macher der großen, rätselhaften Band Scritti Politti, über seine Angst vor dem Erfolg sowie über die gute, alte Politik des Begehrens
INTERVIEW THOMAS WINKLER
taz: Wie geht es Ihnen?
Green Gartside: Nicht wirklich gut. Ich glaube, das ist mein erster Pressetag seit ungefähr 15 Jahren. Es erinnert mich daran, was so toll daran ist, wegzurennen und sich zu verstecken. Über sich selbst zu sprechen ist sehr intim und ein sehr ungesundes Geschäft.
Immer noch?
Immer noch. (sammelt sich) Hier bin ich also.
Ihr neues Album ist das erste seit sieben Jahren. Darauf singen Sie: „I was waiting for the time it takes for someone to forget.“ Wie autobiografisch ist das?
Ziemlich. Aber dieses Wort, autobiografisch, das ist mir unangenehm. Ich hatte schon immer etwas gegen die bekenntnishafte Schule des Songschreibens.
Warum schreiben Sie dann solche Zeilen?
Weil der Bekenntnisteil an meinen Songs … Nein, Bekenntnis ist nicht richtig, wir müssen ein anderes Wort finden.
Authentisch?
Authentisch wäre ganz falsch. Meine Texte sind definitiv nicht authentisch. Aber es sind Songs, die von meinen Erfahrungen und Gefühlen erzählen. Offensichtlich kann ich diese Songs schreiben, aber ich kann nur sehr schwer über sie sprechen. Ich denke, das ist nicht ganz normal. Aber um das genau zu analysieren, müsste ich mir die Texte auch noch mal genau ansehen. Aber ich höre mir meine Songs niemals wieder an, sobald ich sie einmal aufgenommen habe.
Aber Sie sind doch zuletzt nach fast 24 Jahren Pause wieder ein paar Mal aufgetreten. Dazu müssen Sie die Texte doch auswendig können.
Ich musste die Texte beim Singen von Zetteln ablesen. Das war ziemlich chaotisch, hat aber auch Spaß gemacht. Ich möchte meine Texte nicht auswendig lernen, ich möchte ihnen am liebsten überhaupt keine Aufmerksamkeit schenken. Aber was diese Zeilen angeht, die stammen aus dem Song „Road To No Regret“ und sie sind wie der ganze Song und sein Titel etwas schmalzig. Aber das passt ja auch zur Musik, oder? Der Text gipfelt ja dann in den Zeile: „Never play your cards and you’ll never loose your bet.“ Das ist autobiografisch in dem Sinne, dass ich über lange Strecken in meinem Leben keine Musik gemacht habe – und zwar ebenso aus Angst vor Ablehnung wie aus Angst vor Anerkennung. So erklären sich meine langen Abwesenheiten. Mittlerweile scheine ich besser damit klar zu kommen, dass meine Musik oder ich nicht gemocht werden könnten.
Wollen Sie als der Popstar mit dem wenigsten Ehrgeiz in die Geschichte der Popmusik eingehen?
Ich weiß nicht. Danach zu streben, das wäre doch viel zu ehrgeizig. Das ist nichts für mich. Aber anderen geht das doch auch so. Mangelndes Selbstwertgefühl scheint mir doch auch ein sehr verbreitetes Phänomen.
Gewöhnlich nicht bei Menschen, die unbedingt auf einer Bühne stehen wollen.
Nein. Aber ich dachte früher ja auch, ich wolle unbedingt auf die Bühne. Ich dachte, ich könnte meine Unsicherheit überspielen und eine ironische Distanz wahren. Aber selbst damals in den Tagen von Punk: So sehr ich auch unbedingt in einer Band sein wollte, mindestens so sehr hat mich schon damals das Musikmachen und Musikaufnehmen interessiert. Leider soll man dann auch auf die Bühne zugehen und diese Songs präsentieren. Diese beiden Fertigkeiten hat aber nicht unbedingt jeder gleichzeitig. Ich jedenfalls nicht. Aber diese paar Auftritte, die ich jetzt gemacht habe, die waren, muss ich zugeben, eine weitestgehend gute Erfahrung – wenn auch, wie gesagt, eine ziemlich chaotische.
Was hat sich denn verändert in den letzten 24 Jahren?
Einer der Vorteile am Älterwerden ist, dass man weniger verkrampft ist. Aber ich muss erst sehen, wie ich weiter damit klar kommen. Ich bin ganz hoffnungsvoll, dass mein Selbstbewusstsein groß genug ist, um die Öffentlichkeit demnächst zu genießen. Momentan bin ich noch sehr ängstlich, aber vielleicht morgen schon nicht mehr. Es war schließlich meine Entscheidung, eine neue Platte heraus zu bringen.
Dann beschreiben Sie doch mal die Platte.
Es ist der Sound, der entsteht, wenn jemand allein in seinem Zimmer sitzt und mit Worten und musikalischen Einflüssen herumspielt. Etwas, was ich zu meiner eigenen Unterhaltung getan habe. Oder besser: Um mich abzulenken.
Abzulenken von was?
Um mich vom Rest meines Lebens abzulenken. Ich bin ein ziemlich zurückgezogener und ängstlicher Typ. Ich habe viele Methoden, Dinge nicht zu tun, die ich nicht tun will. Und eine dieser Methoden ist es eben, in mein Studio zu gehen und dort irgendetwas aufzunehmen. Eigentlich waren das ja auch Demos.
Warum bringen Sie die Sachen heraus, wenn Sie solche Angst vor den Folgen haben?
Das fragen mich viele. Aber ich denke, der allererste Grund, warum man überhaupt mit der Musik anfängt, ist ja der, dass man gehört werden will.
Wovon leben Sie eigentlich? Immer noch von den Tantiemen aus den Achtzigern?
Unglaublicherweise ja. Aber ich lebe auch ein sehr einfaches Leben. Wenn man nur Geld für Brot, Käse und Bier braucht, kann man ewig überleben. Ich hatte ja nicht mal ein Auto.
Gibt es einen roten Faden auf der Platte?
Ja, ich denke schon. Es geht um Sehnsüchte und Abhängigkeiten, über Sicherheiten und Wahrheit, auch wenn man weiß, dass man die nie finden wird. Es geht um das Mädchen, um die Liebe, um Wahrheit und schlussendlich um einen utopischen Sozialismus – halt alles, wonach man sich sehnt.
Erinnert an die Achtziger. Man hört Musik, verliebt sich und denkt, mit dem perfekten Popsong treibt man die Weltrevolution voran.
Klingt ganz so, als hätte ich mich nicht wesentlich weiter entwickelt. Mir geht es wohl immer noch um denselben alten Bullshit.
Dieser alte Bullshit war auch der Glaube daran, dass Pop eine politische Sprengkraft entwickeln könnte.
Ich denke, 1980 waren diese Diskussionen eigentlich bereits tot. Aber das waren interessante und wertvolle Diskussionen und sie werden aufgrund der technologischen Veränderungen in der Musikindustrie, die wir gerade erleben, wieder interessant und wertvoll werden. Die alten Achtziger-Begriffe wie „Politik des Begehrens“ werden in anderer Form wieder auftauchen. Es wird nicht nur darum gehen, wie Musik verkauft und verteilt wird, sondern auch, wer Zugang zu ihr hat und wer sie eigentlich besitzt. Und schlussendlich auch, was ihre Bedeutung ist. Interessant daran sind vor allem die Fragen, die sich stellen werden. Die Antworten sind möglicherweise totaler Schwachsinn.
Damals, Punk war gerade gescheitert, erschien einem Pop – auch dank Scritti Politti – plötzlich als etwas Subversives. Kann das wieder so werden?
So wie Musik heute produziert, konsumiert und vermarktet wird, hat man nicht gerade den Eindruck. Allerdings stecken wir gerade mitten in einer vollkommenen Umwälzung von Pop. Und in der Musik steckt immer etwas Utopisches, weil vornehmlich junge Menschen sie zur Identitätsfindung benutzen. Das gibt der Musik eine Kraft, die wir – in Ermangelung eines besseren Wortes – mal revolutionär nennen wollen. Für mich hat die Musik immer noch diese Kraft, aber die meisten in meinem Alter haben das vergessen. Sie wissen bereits, wer und was sie sind, sie brauchen die Musik nicht mehr, um sich über sie zu definieren.
Weswegen diese Retro-Nächte solch ein großer Erfolg sind.
Ja, schrecklich. Gottseidank werde ich nicht mehr gefragt, ob meine Songs für irgendwelche Compilations verwendet werden dürfen. Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen. Ich habe es nie erlaubt, aber zwei oder drei Stücke sind wohl doch durchgerutscht.
Welcher der Philosophen, die Sie lesen, könnte einem weiterhelfen, wenn man verstehen möchte, was momentan in der Popmusik passiert?
Ich glaube, da gibt es keinen. Aber das ist die Abteilung im Buchladen, in die ich mich nicht mehr verirre.
Aber Sie lesen doch gerade was Philosophisches. Auf dem Tisch da liegt „Against Relativism“ von Christopher Norris.
Das ist ein Buch, das ich schon vor fünf Jahren zum ersten Mal gelesen habe. Tatsächlich hat Norris ein paar ganz interessante Bücher über Musik geschrieben, aber das ist jetzt Zufall. Vor ein paar Jahren habe ich mal einem Teenie-Magazin ein Interview gegeben und eine Frage war: Von wem würden Sie gern einen Brief bekommen? Und ich antwortete: Christopher Norris. Weil ich dachte, das wäre lustig und bei dem Magazin und seinen Lesern kennt den eh niemand. Allerdings hatte Norris eine Tochter im Teenageralter, die das Magazin las und die Treppe hoch rannte und rief: Daddy, dieser Mann will einen Brief von dir. Also schrieb er mir einen Brief. Ich habe ihn auch getroffen. Ich war sehr nervös. Ein unglaublich schlauer Mann. Er ist ein utopischer Sozialist, aber seine Leidenschaft ist die klassische Musik. Er singt in einem sozialistischen Chor in Wales. Er hat mich eingeladen mitzusingen. Ich habe das Angebot sehr höflich abgelehnt.
Sie haben auch Jacques Derrida getroffen. Er wollte Sie ausdrücklich als Gesprächspartner. Und Miles Davis hat einen Ihrer Songs gecovert. Macht Sie so etwas stolz?
Beide sind sie missverstanden worden. Wenn jemand zu Ihnen sagt, ich mag Ihre Musik sehr, dann antwortet man: Vielen Dank. Aber in Wirklichkeit glaubt man es nicht. Deshalb ist Erfolg ebenso schmerzhaft wie Versagen.
Wem soll man denn ein Kompliment glauben, wenn nicht Miles Davis, der berüchtigt war für seine unfreundliche, harsche Art?
Ja, schon. Aber auch die größten Köpfe können sich mal irren und das gilt auch für Jazzmusiker und selbst für Philosophen.
Beschäftigen Sie sich noch mit der Philosophie?
Ja, aber nicht mehr so viel wie früher. Ich komme immer wieder darauf zurück – wie ein Hund, der nicht aufhören kann, an seinem kranken Bein herumzukauen. Es wird nicht besser davon, eher schlimmer.
Klingt nach einer Krankheit.
Ja, aber so bin ich wohl. Ich kehre stets zurück zu den Dingen, die ich besser sein lassen sollte. Wenn man offensichtlich nicht dafür gebaut ist, in der Öffentlichkeit Musik zu machen, dann sollte man es verdammt noch mal sein lassen. Und wenn einen Philosophie in Verwirrung stürzt und verstört und quält, dann sollte man sich verdammt noch mal nicht mehr mit ihr beschäftigen. Aber ich kann wohl nicht anders. Ich werde nicht aufgeben, ich gebe mich nicht geschlagen, ich werde weiter an meinem Bein herumkauen.