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Exklusiver VorabdruckChinas vergessene Opfer

Während der Belagerung der Stadt Changchun durch die Volksbefreiungsarmee starben 1948 Hunderttausende an Hunger. Ihre Geschichte ist heute vergessen.

In der mandschurischen Metropole Changchun fand 1948 das möglicherweise größte Massaker des chinesischen Bürgerkrieges mit bis zu 600.000 geschätzten Opfern statt, die Mehrzahl davon Zivilisten. Doch im heutigen China kennt niemand diese Geschichte. In Changchun unterhält Volkswagen heute große Werke.

Die taiwanische Autorin Lung Yingtai hat die Ereignisse im Bürgerkrieg für ihr neues Buch “Big River, Big Sea – Untold Stories of 1949” recherchiert. In Taiwan und Hongkong ist das Buch bereits ein Bestseller. Die taz publiziert als deutsche Erstveröffentlichung exklusiv ein Kapitel aus Lungs Buch.

 

Yongnian ist eine kleine Stadt in Nordchina. Während des Bürgerkriegs wurde sie im August 1945 von der Volksbefreiungsarmee abgeriegelt. Als das Stadttor schließlich im Oktober 1947 aufgebrochen wurde, war von den 30.000 Einwohnern nur noch ein Zehntel übrig. Als die kommunistischen „Befreier“ über die Hauptstraße marschierten, waren sie überrascht, dass die überlebenden Einwohner recht „pummelig“ aussahen, besonders ihre Gesichter und ihre Beine. Wie konnten sie „pummelig“ sein, wenn selbst die Borke an den Bäumen sowie alles Gras in den Bäuchen verschwunden war und die Türen und Fensterrahmen der Häuser als Feuerholz in Flammen aufgegangen waren? Zu jener Zeit, zehn Jahre vor der großen Hungersnot während des „großen Sprungs vorwärts“, wussten die Soldaten der Volksbefreiungsarmee noch nicht, wie eine Hungersnot aussieht.

 

Wenn ein Mensch dauerhaft zu wenig Nahrung bekommt, geschieht Folgendes: Du kannst stark abmagern, aber du kannst auch richtig pummelig werden, da dein gesamter Körper anschwillt. Deine Haut nimmt die blasse Färbung einer Leiche an, du fühlst, wie sie dicker wird und austrocknet. Jeder leichtere Stoß führt zu einem großen violetten und blauen Fleck. Wenn dein Körper aufgedunsen ist, fühlt sich deine Haut wie feuchter Teig an. Ein leichter Druck mit dem Finger hinterlässt eine Delle, und sie bleibt einfach da.

Dein Haar wird dünn, und auch ein wenig kräuselig. Wenn du daran ziehst, geht ein ganzes Büschel aus. Jedes einzelne deiner Gelenke schmerzt, deine Hände, deine Füße. Selbst wenn sie nicht schmerzen, sind sie entzündet.

Dein Zahnfleisch beginnt zu bluten. Wenn du einen Spiegel hast und die Zunge herausstreckst, kannst du sehen, dass sie geschwollen ist, oder sie ist vielleicht zusammengeschrumpelt und rissig geworden. Von deinen Lippen beginnen sich Flocken abzulösen, sie sind weiß wie Mehl.

Dein Augenlicht schwindet. Wenn die Nacht hereinbricht, bist du blind. Du gehst die Straße entlang und tastest dich mit den Händen an den Wänden voran. Nichts mehr lässt sich erkennen. Die Augen werden auch überempfindlich gegen das Sonnenlicht, jeder direkte Strahl blendet.

Dein Kreislauf schafft es nicht mehr. Wenn du stehst, wird dir schwindlig, aber wenn du dich setzt, kommst du nicht mehr auf die Beine. Du bekommst Durchfall und entleerst dich immer weiter.

Deine Schilddrüse beginnt anzuschwellen, deine Muskeln krampfen sich unerwartet zusammen, deine Gliedmaßen lassen sich nicht länger koordinieren. Du kannst das Gleichgewicht nicht bewahren, du wirst verwirrt, deine Augen spiegeln.

Niemand kennt Changchun

Technisch gesehen begann die Belagerung von Changchun am 15. März 1948, als die Volksbefreiungsarmee die Kontrolle in der Siping-Straße errang und jeglichen Nachschub nach Changchun durch eine Blockade verhinderte. Ab dem 23. Mai konnten nicht einmal mehr kleine Flugzeuge in der Stadt landen, da sie vom Boden beschossen wurden. Damit war auch die letzte Möglichkeit abgeschnitten, die Stadt zu versorgen.

Wieviele Menschen verhungerten im Verlauf der sechsmonatigen Belagerung von Changchun?

Als sie begann, lebten offiziell 500.000 Menschen in der Stadt. Wenn man auch die Flüchtlinge mitzählt, die zuvor in die Stadt geströmt waren, muss die gesamte Bevölkerung etwa 800.000 bis 1,2 Millionen Menschen gezählt haben. Davon ist auch in einigen Briefen von Einwohnern die Rede. Am Ende der Belagerung weisen die Statistiken der Volksbefreiungsarmee eine Bevölkerung von 170.000 in der Stadt verbliebenen Einwohnern aus. Überlebende geben an, dass sie die Zahl der Todesopfer auf 100.000 bis 650.000 schätzen.

Was geschah mit all diesen Personen, die sich während der Belagerung scheinbar in Luft aufgelöst haben?

Wenn man von einem Mittelwert der geschätzten Opferzahlen ausgeht, so sind etwa 300.000 Menschen verhungert. Das entspricht etwa der Zahl der Toten bei dem (Ende 1937 von der japanischen Armee verübten, Anm. d. Ü.) Massaker von Nanjing. Doch anders als über jenen Massenmord gibt es über die Belagerung von Changchun keine Dokumente, ist sie nicht von Historikern erforscht worden, wird sie nicht als oral history an die jüngere Generation weitergegeben, nicht in den Medien behandelt, nicht durch Mahnaktionen Einzelner oder nationale Gedenkstätten im Gedächtnis bewahrt, nicht bei feierlichen Anlässen von den politischen Führern erwähnt, nicht in Geschichtsbüchern festgehalten oder im Schulunterricht behandelt. Warum läuten die Tempelglocken für die Opfer des Massakers von Nanjing, aber nicht für die der Belagerung von Changchun?

Warum wird der Name Changchun nicht im Gedächtnis der Welt ebenso gewürdigt wie der Name Leningrads? Warum wurde die Belagerung von Changchun nicht – so wie die Belagerung von Leningrad – zum Stoff von Romanen oder Drehbüchern und Hollywoodfilmen? Warum haben sich keine Dokumentarfilmproduzenten der Geschichte von Changchun angenommen, warum wurde sie nie in den öffentlichen Fernsehsendern der Welt gezeigt, damit schon die Kinder in den Grundschulen von New York, Moskau oder Melbourne den Namen Changchun ebenso kennen wie den von Leningrad?

Die gleichen einfachen Leute

Ich habe die Menschen um mich herum immer wieder gefragt, und ich habe herausgefunden, dass diese blutige Belagerung von Changchun, die zum Tod von 300.000 oder vielleicht sogar von 650.000 Seelen geführt hat, auch bei meinen belesenen Freunden in Taiwan oder bei deren intellektuellen Kollegen in China nicht bekannt ist. Ich dachte voller Optimismus, dass wenigstens die Menschen in Changchun selbst diese Episode kennen sollten, oder dass es wenigstes irgendwo in Changchun einen Gedenkstein, einen ganz kleinen nur, gäbe.

Aber als ich im Mai 2009 in Changchun ankam, stieß ich nur auf gigantische „Befreiungs“denkmäler, die den kommunistischen Sieg von 1949 im Bürgerkrieg feierten, und auf das große Monument mit dem bronzenen Kampfflugzeug auf der Spitze, das der Roten Armee der UdSSR gewidmet ist. Erst da wurde mir klar, dass nicht einmal die Einwohner Changchuns ihre jüngere Geschichte kannten.

Aber warum nicht?

Ich hatte mir einen Fahrer genommen, Herrn Wang. Er war etwa 30 Jahre alt und stammte aus Changchun. Mit ungläubigem Blick hörte er erst meiner Schilderung der Belagerung Changchuns zu, dann fragte er höflich: „Ist das wirklich wahr? Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Warum habe ich noch nie davon gehört?“

Aber dann erinnerte sich Herr Wang plötzlich: „Ich habe einen Onkel, der früher in der Volksbefreiungsarmee war. Ich erinnere mich vage, dass er Kämpfe gegen die Nationalisten während des Bürgerkriegs erwähnt hat. Aber wir waren Kinder, und wir rannten immer fort, wenn er wieder mit seinen alten Geschichten anfing. Vielleicht hat er ja von der Belagerung gehört?“

„Warum rufen Sie ihren Onkel nicht gleich an?“, schlug ich vor. Ich erklärte ihm: „Damals kamen viele Soldaten der Volksbefreiungsarmee, die an der Blockade Changchuns teilnahmen, selbst hier aus der Stadt. Auf beiden Seiten der Absperrungen standen eigentlich die gleichen einfachen Leute. Vielleicht können Sie ihren Onkel fragen, ob er selbst an der Belagerung beteiligt war?“

Noch am Tisch, an dem wir zu Abend aßen, wählte Wang die Nummer, und die kräftige Stimme, die sich am anderen Ende der Leitung meldete, war so deutlich zu hören, dass ich neben Wang sitzend jedes Wort verstand. Tatsächlich war Onkel Wang 1948 ein Infanterist der Volksbefreiungsarmee, und er hatte auch an der Blockade teilgenommen.

„Fragen Sie ihn“, sagte ich, „welchen Posten er in Changchun besetzt hatte?“

„HongXi-Straße“, antwortete sein Onkel, dessen Dialekt deutlich seine Herkunft verriet. „Heute ist das die Rote-Flaggen-Straße. Dort starben mehr Leute als überall sonst.“

Onkel Wang war offensichtlich überrascht, dass irgendjemand sich für seine Vergangenheit interessierte. Er begann, mehr Einzelheiten zu erzählen. Fahrer Wang hörte mit dem Hörer an einem Ohr zu und aß gleichzeitig weiter. 40 Minuten vergingen wie im Fluge.

Die Blockadelinie um die Stadt war 100 Kilometer lang. Alle 50 Meter stand ein bewaffneter Soldat der Volksbefreiungsarmee Wache. Niemand durfte die Stadt verlassen. Als im Stadtzentrum immer stärker Hungersnot herrschte, ließen die nationalistischen Truppen die Einwohner heraus, doch der Exodus der Flüchtlinge kam an der Blockadelinie der Volksbefreiungsarmee zum Halt. So entstand ein etwa drei Kilometer breiter Gürtel Niemandsland rings um die Stadt. Bewohner Changchuns konnten die Innenstadt verlassen, damit der durch den Mangel an Nahrungsmitteln und Brennstoff entstandene extreme Druck nachließ, aber dann strandeten sie im Niemandsland. Tausende Leichen sammelten sich in dem öden Streifen zwischen den Geschützlinien beider Seiten an.

Die spindeldürren Flüchtlinge, die kaum mehr atmen konnten und von denen einige sterbende Kleinkinder auf den Armen trugen, krochen bis vor die Füße der Wachposten der Volksbefreiungsarmee und flehten darum, durchgelassen zu werden. „Der Anblick rührte mich zu Tränen“, sagte Onkel Wang. „Aber ich konnte meine Befehle nicht missachten und sie gehen lassen. Eines Tages sollte ich einige Holzbretter aus dem Fluss holen, der an der Stadt vorbeifloss. Ich fand eine leere Hütte. Ich werde nie vergessen, was ich sah, als ich hineinschaute. Eine gesamte zehnköpfige Familie, jung und alt, alle gestorben.

Sie lagen auf einer Strohmatratze, waren auf dem nackten Erdboden ausgestreckt, lehnten unten an der Lehmwand, waren auf der Türschwelle zusammengebrochen. Alle waren verhungert. Ich konnte die Tränen nicht zurückhalten.“

Im Mai richtete Lin Biao, der Kommandeur der Volksbefreiungsarmee, ein Hauptquartier für die Belagerung ein und erklärte deren Beginn.

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... Blockiert alle Haupt- und Nebenwege in die Stadt ... übernehmt die Kontrolle über den Flughafen.

Setzt weit reichende Schusswaffen ein, um die Kontrolle über die Freiheits-Straße und den Flughafen am Neuen Palast zu behalten.

Es herrscht strengstes Verbot, Nahrungsmittel und Nachschub in das gegnerische Gebiet zu bringen

Den Bewohnern Changchuns ist es strikt verboten, die Stadt zu verlassen

Bereitet euch darauf vor, jegliche gegnerischen Kräfte anzugreifen, die auf der Suche nach Lebensmitteln aus der Stadt auszubrechen versuchen.

... macht aus Changchun eine Totenstadt.

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Um den Kampfgeist noch anzustacheln, hatte die Volksbefreiungsarmee die Parole ausgegeben: „Überlasst dem Feind nicht einmal ein Reiskorn oder einen Grashalm. Blockiert Chiang Kai-sheks Armee, bis sie vernichtet ist“. 100 000 Soldaten der Volksbefreiungsarmee riegelten die Stadt von außen ab, 100 000 Soldaten der Nationalisten verteidigten sie von innen, und etwa 800 000 Einwohner waren in ihren Häusern eingesperrt. Wer nicht mehr länger herumsitzen und abwarten wollte und deshalb hinausging, stieß bald auf Hindernisse wie ausgehobene Gräben und Starkstromleitungen. Außerdem blickte er in die Mündungen der Geschütze und Gewehre der Volksbefreiungsarmee.

Als die Sommerhitze im Juli ihren Höhepunkt erreichte, lagen überall in den Straßen von Changchun verlassene Leichen herum. Rudel abgemagerter Hunde mit blutunterlaufenen Augen streunten um die verwesenden Körper herum und rissen von ihnen das Fleisch herunter. Diese streunenden Köter wurden dann von den ausgehungerten Menschen gegessen.

Was sind Muttergefühle?

Yu Qi-Yuan arbeitete im Büro des Archivs von Changchun. Während der Belagerung war er erst sechzehn. Jeden Tag lief er durch ein verwildertes, mit hohem Gras bewachsenes Feld zur Schule. Als der Sommer begann, fiel ihm dort ein seltsamer Geruch auf. Eines Tages folgte er diesem Geruch und fand mehrere verwesende Leichen, die in dem hohen Gras verborgen waren. Am folgenden Tag sah er auf seinem Weg ein Stück weiter weg etwas, das sich bewegte. Er ging näher heran. Was er erblickte, sollte ihm nie mehr aus dem Kopf gehen.

Es war ein verlassenes Kind, es war völlig nackt. Es war so ausgehungert, dass seine Gedärme aus seinem Körper heraushingen und von dem Kind hinter sich her geschleppt wurden. Es war ein großer Teil seiner Gedärme. Das Kind war noch am Leben, es bewegte sich noch langsam, wie ein Wurm über den Boden kriecht, aber es konnte nicht mehr weinen.

„Was sind Muttergefühle?“ fragte Yu und schaute mich an. „Wenn Menschen vor der Herausforderung stehen, für ihr Überleben bis ans Äußerste zu gehen, ist für Muttergefühle kein Platz mehr. Tränen sind dann vergeudet.“

Reis aus der Luft

Am Anfang brachten die Nationalisten Lebensmittelnachschub per Flugzeug nach Changchun, aber als die Volksbefreiungsarmee die Flughäfen eroberte, konnten sie nur noch versuchen, Säcke voll Reis mit Fallschirmen über der Stadt abzuwerfen. Aber wenn der Wind drehte, wurden die Fallschirme samt der Lebensmittel in die Hände der Belagerer geweht. Danach verzichteten sie auf die Fallschirme, denn die Volksbefreiungsarmee beschoss die Fugzeuge mit Abwehrgeschützen. Sie warfen den Nachschub einfach aus großer Höhe ab. Einmal ließen sie sogar ein ganzes geschlachtetes Schwein herunterfallen! Aber diese Abwürfe zerstörten beim Aufprall immer wieder Hausdächer oder erschlugen Menschen.

„Haben Sie jemals selbst etwas von den Lebensmitteln gefunden?“, fragte ich ihn.

„Einmal habe ich einen Sack Bohnen aufgehoben und ihn eilig nach Hause geschleppt“, erinnert sich Yu. „Damals haben sich die Soldaten allen Ernstes gegenseitig umgebracht, um an die abgeworfenen Nahrungsmittel zu gelangen. Dann gab es Befehle, dass alle diese Lebensmittel bei den Vorgesetzten abgeliefert werden müssten, damit die sie rationieren. Daraufhin machten die Soldaten schon Feuer und setzten große Töpfe mit Wasser auf, wenn sie erfuhren, dass eine Lieferung aus der Luft bevorstand. Sobald die Lebensmittel am Boden ankamen, wurden sie augenblicklich gekocht und waren, wenn die Inspektoren auftauchten, schon verzehrt.“

Wie isst man das?

Yu Qi-Yuans Geburtsjahr, 1932, war auch das erste Jahr (nach Ausrufung des international umstrittenen „Kaiserreiches“ von Pu Yi, d. Ü.) von Mandschukuo. Yus Vater war ein Minister in der Regierung des letzten chinesischen Kaisers Pu Yi, daher hatte Yu eine sorglose Kindheit. Die Entbehrungen während der Belagerung von Changchun haben sich deshalb besonders deutlich in seiner Erinnerung eingebrannt. „Als die Belagerung begann, hatten alle noch Vorräte zu Hause. Aber niemand ahnte, dass die Blockade ein halbes Jahr andauern würde, also waren die eingelagerten Lebensmittel rasch aufgebraucht. Dann begannen die Leute, Katzen, Hunde und Ratten zu töten und zu essen. Danach wurden die Pferde geschlachtet. Als es keine mehr gab, rissen die Einwohner das Pflaster der Straßen auf, um dort Pflanzen auszusäen. Aber wenn man im August pflanzt, kann niemand bis zur Ernte warten. Also aßen sie Baumrinde, dann Gras und Unkraut. Ich hatte etwas Hefe zur Weinherstellung übrig. Es waren große Stücke, wie Ziegelsteine. Als sie aufgebraucht war, aßen wir die trockenen Rückstände des Weins.“

„Wie isst man das?“

„Man sammelt die Rückstände und wäscht mit Wasser die klebrigen Bestandteile heraus. Was dann zurückbleibt, wird in der Sonne getrocknet, und man schluckt es mit Wasser herunter.“

Ein Stück Fleisch

Die Nachmittagssonne schien durch ein Fenster herein und ihre Strahlen tauchten den Raum unvermittelt in ein warmes Licht. So erschütternd die Erinnerungen Herrn Yus auch waren, er erzählte sie in ruhigem gefassten Ton. Es war beinahe, als ob er schon so viel von der Welt gesehen hätte, dass ihn nichts mehr wirklich überraschte.

Ich fragte ihn: „Und dann – auch Menschen? Haben Menschen Menschen gegessen?“

„Das versteht sich“, antwortete er.

Er erinnerte sich an einen Raum, in dem sich, nachdem alle anderen gestorben waren, der letzte Überlebende erhängt hatte. Er hatte auch von einer Großmutter gehört, die ein Stück Fleisch vom Bein ihres toten Mannes abgeschnitten und gekocht hatte.

Eine Million Feinde vernichtet

Am 9. September 1948 schickte Kommandeur Lin Biao ein Telegramm an den Vorsitzenden Mao, in dem er über die Lage in Changchun Bericht erstattete: „Die Hungersnot verschlimmert sich. Hungernde Einwohner strömten bei Dunkelheit und in der Nacht aus der Stadt. Nachdem wir sie zur Umkehr zwangen, drängten sie sich in Ansammlungen im Niemandsland zusammen, was zu zahlreichen Todesfällen führte. Allein am östlichen Stadttor zählten wir 2000 Leichen ... Es ist für unsere Soldaten wie für die Einwohner zum Problem geworden, dass wir die ausgehungerten Menschen nicht aus der Stadt lassen oder die, die es doch geschafft haben, zurückzwingen. Es fällt schwer, dies zu rechtfertigen. Große Gruppen von Zivilisten fielen vor unseren Wachposten auf die Knie und flehten sie an, heraus zu dürfen. Einige warfen ihnen ihre Kleinkinder vor die Füße und ließen sie zurück. Andere brachten Seile mit und erhängten sich vor den Augen der Wachposten."

Am 17. Oktober ergab sich die erste Gruppe von 26 000 in Changchun stationierten Soldaten der nationalistischen Streitkräfte. Zwei Tage später legten 39 000 weitere nationalistische Soldaten die Waffen nieder und begaben sich in Gefangenschaft. Dies waren die selben Militäreinheiten, die zwischen 1937 und 1945 gegen die gut bewaffneten Streitkräfte Japans gekämpft hatten. Einige waren erst kurz zuvor aus dem Dschungel von Indien und Birma zurückgekehrt, wo sie Seite an Seite mit britischen und US-Truppen gekämpft hatten.

Im Verlauf der 52 Tage andauernden Kämpfe in und um Changchun wurden 470 000 nationalistische Soldaten von der Volksbefreiungsarmee „vernichtet“.

Am 3. November 1948 schickte das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei ein Glückwunschtelegramm an die Frontsoldaten der Volksbefreiungsarmee:

„ ... nach drei Jahren des Kampfes sind über eine Million der Feinde vernichtet worden, ihr habt endlich den gesamten Nordosten befreit. Wir hoffen, dass ihr gemeinsam mit dem Volk des Nordostens und den Soldaten der Volksbefreiungsarmee in jeder Region eure harte Arbeit fortsetzt. Ihr werdet den Kuomintang die Kontrolle entreißen und den Einfluss der imperialistischen USA zurückdrängen. Lasst uns kämpfen, um ganz China zu befreien!“

Als später die Geschichte der Befreiung schriftlich festgehalten wurde, gab es darin keine Erwähnung , wie viele Menschen bei der Blockade von Changchun ihr Leben verloren hatten. Der „Sieg“ von Changchun gelangte in die Geschichtslehrbücher als eines der friedlichsten und als „unblutiges“ Kapitel des ruhmreichen Befreiungskampfes des Volkes. Besonders häufig wird ein alter chinesischer Satz zitiert, um diesen Punkt hervorzuheben: „Auf den Schwertern ist nicht ein Tropfen Blut.“

Aus dem Chinesischen ins Englische von Rachel Ko; aus dem Englischen von Stefan Schaaf. "Großer Fluss, großes Meer – Unbekannte Geschichten aus dem Jahr 1949" erschien auf Chinesisch im Commonwealth Publishing House, September 2009

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