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Archiv-Artikel

Der Aufstand der Pinguine

„Wir haben die Jugend völlig unterschätzt“, sagt der Politologe Carlos OlivaDie Schülerrevolte gilt als Härtetest für die frisch gekürte Präsidentin Bachelet

AUS SANTIAGO DE CHILECOSIMA SCHMITT

Die Revoluzzer tragen Krawatte oder Faltenrock. Sie marschieren in Kniestrümpfen und frisch gestärktem Hemd. Ihr Logo ist nicht die Faust, nicht die Sichel, sondern der Pinguin. Sie bemalen Plakate, besprühen Omas altes Bettlaken – und haben auf diese Weise einen Massenprotest ausgelöst.

Chile erlebt die größte soziale Bewegung seit den Sechzigerjahren, initiiert ist sie von Teenagern in Schuluniform. Sie streiten für ein Bildungssystem, das fairer umgehen soll mit all denen, die nicht reich geboren sind. Sie fordern einen Unterricht, der sie fürs 21. Jahrhundert fit macht und ihnen nicht nur die Zeit vertreibt. Dafür haben sie ihre Klassenräume verrammelt und Transparente an die Schulfassade gehängt. Zu Tausenden marschieren sie durch die Innenstädte und verkünden ihre Forderungen, bei der Großdemonstration vor einer Woche gingen landesweit gar eine Million Menschen auf die Straße.

„Wir haben die Jugend völlig unterschätzt. Wir haben gedacht: Die interessieren sich nur für Computerspiele oder ein neues Handy“, sagt der Politologe Carlos Oliva, der unter Pinochet im Foltergefängnis saß und heute als einer der renommiertesten chilenischen Menschenrechtler die Lage im Lande analysiert. „Jetzt merken wir: Diese Kinder denken politisch. Sie sehen klar, wo elementare Rechte verletzt werden. Und sie sind sehr gut organisiert.“

Der Aufruhr begann vor zwei Wochen: Ein paar Schüler liefen durch Santiagos Straßen und forderten ein besseres Bildungssystem. Bald besetzten Teenager mehrere Schulen. Dann schloss sich die Provinz an. Vor ein paar Tagen traten auch einige Unis in den Ausstand. In Santiago gehören Großdemos nun fast zum Alltag, Vierzehnjährige sind inzwischen Streikroutiniers.

Ein Pinguin, flauschig und rund, der eine Krawatte um den Hals gebunden trägt – das ist das Emblem des Aufstands. Chile nennt seine lernende Jugend „Pingüinos“: wegen des Frackdesigns der Schuluniformen, und weil ein großer Uniformenhersteller den Vogel als Logo verwendet hat. Auf einmal flanieren auf Santiagos Straßen Damen, die sich einen Pinguinbutton an die Seidenbluse geheftet haben. Medienumfragen offenbaren eine breite Unterstützung für die Schülerproteste. „Die Leute wissen vielleicht nicht, gegen welches Gesetz genau die Schüler protestieren. Aber sie spüren, dass etwas falsch läuft in unserem Land“, sagt die Studentin Valentina Rozas, die an der Katholischen Universität Santiago den Streik mitorganisiert. Längst haben die Jugendproteste eine Grundsatzdiskussion entfacht. „Wie gut oder schlecht ist Chiles Bildungssystem?“ – darüber debattieren nicht nur Eltern und Lehrer, sondern auch Ehepaare auf Parkbänken oder Wartende an der Bushaltestelle.

Chile hat in den letzten Jahren mehr als früher in die Bildung investiert, aber das war nur ein Teilerfolg. Zwar lernt jetzt fast jedes chilenische Kind Lesen und Schreiben – doch das Niveau der meisten staatlichen Schulen ist nach wie vor sehr niedrig. Die Lehrer sind nicht mehr so lausig bezahlt wie früher – aber immer noch schlecht. Talentierte Studenten wählen lieber andere Berufe, und die wenigen guten Lehrer werden von einer der vielen Privatschulen abgeworben. Die Folge: Wer immer es sich leisten kann, schickt sein Kind auf eine teuere Privatschule. Denn vor allem dort schaffen Schüler den Zulassungstest zur Uni.

Welten liegen zwischen einer Dorfschule, in der ein Lehrer oft mehrere Jahrgänge gleichzeitig unterrichtet, und einer Privatschule in Santiagos Reichenviertel Las Condes. Ein Platz hier kostet mehr, als eine Hausangestellte verdient. Ein Bauernkind dagegen scheitert oft schon am Geld für den Bus, der es zu einer Oberschule in der nächsten Stadt bringen könnte. Nicht zufällig fordern daher die Pingüinos vor allem Maßnahmen, die Armen den Bildungsweg erleichtern: Dass arme Schüler nichts für die Busfahrt zur Schule bezahlen müssen. Dass sie dort gratis ein Mittagsessen erhalten. Und dass sie kostenlos an der Unizulassungsprüfung teilnehmen dürfen.

Der Protest ist allgegenwärtig: An den Supermarkttüren stehen Schüler und schütteln Sammelbüchsen – sie brauchen Geld für Transparente, Plakate und etwas zu essen. In Santiagos Innenstadt haben ein paar Schüler einen Sperrholzsarg geschultert und tragen ihn durch die Straßen, „Bildung“ prangt auf seinem Deckel, darunter ein Kreuz. Der Winterregen durchweicht die Plakate, an denen man Schulgebäude schon von weitem erkennen kann: An den Fassaden prangen Slogans wie „Bildung für alle“ oder „Unterdrücken ist einfacher als Zuhören“ oder „Der Gipfel der Evolution ist der Pinguin“.

Begünstigt wird dieser Protesteifer durch ein Klima des innenpolitischen Aufbruchs: Die neue sozialistische Präsidentin Michelle Bachelet, noch keine hundert Tage im Amt, ist in vielerlei Hinsicht ein Novum. Sie ist die erste Frau an der Staatsspitze und war Pinochet-Opfer, sie bekennt sich zu keiner Religion und hat Kinder mit verschiedenen Vätern. „La Michelle“ gilt als volksnah und sozial gesinnt. „Natürlich hat es mit Bachelet zu tun, dass gerade jetzt die Proteste aufflammen“, sagt Rozas. „Die Menschen hoffen, dass sie ernsthaft versucht, auch den Armen die Chance auf eine gute Ausbildung, einen guten Job oder irgendeine Teilhabe am Wirtschaftsboom des Landes zu eröffnen.“ Die Schülerrevolte gilt als Härtetest für die frisch gekürte oberste Staatsfrau. Schon ergötzt sich die Boulevardpresse am Präsidentinnenleid: „Supermädchen messen ihre Kräfte mit Michelle“, titelte eine Zeitung am Montag.

Die bekannteste neue Heldin der Jugend ist María Jesús Sanhueza. Vor einem Monat noch war die Siebzehnjährige nur eine politisch interessierte Schülerin. Heute pendelt sie von Talkshow zu Talkshow und lädt zur Pressekonferenz. „Gemeinsam sind wir stark – das wollen wir der Präsidentin beweisen“, sagt die Sprecherin der organisierten Streikenden. Überhaupt sind die Schüler, die so adrett aussehen mit ihren Schulkrawatten und Uniformjacken, die so kamerataugliche frische Gesichter haben, die neuen Lieblinge der Fernsehwelt. Viele reden gewandt, formulieren klar, wissen zu argumentieren. Vor ein paar Jahren hat Chile das Schulfach „Debattieren“ eingeführt. Und auf einmal geraten gestandene Politiker in Bedrängnis angesichts der Wortgewalt der Jugend.

Die ganze Nation sitzt vor den Fernsehbildschirmen und beäugt, wie sich „La Michelle“ aus einem Dilemma zu befreien versucht: Einerseits könnte es ihrem Ansehen schaden, sich von Teenagern ihre Politik diktieren zu lassen. Andererseits kann sie kaum Forderungen missachten, die selbst Kritiker des Protestes als durchaus begründet ansehen. Erst wollte die Regierung sich nicht unter Druck setzen lassen von der aufmüpfigen Jugend. Dann zeigte sie sich doch gesprächsbereit. Tagelang verhandelten Regierungsvertreter mit den Wortführern der Revolte. Dann verkündete „La Michelle“ einen umfangreichen Plan: Die Schülerrabatte in Bus und Metro werden ausgeweitet. Die Regierung will das Recht auf eine gute Bildung gesetzlich verankern, in Infrastruktur investieren, Schulen evaluieren, Gesetze überarbeiten und Armen einen kostenfreien Uniauswahltest ermöglichen.

Angesichts dessen mehren sich in den letzten Tagen die Stimmen derer, die das Ende der Revolte fordern. „Aufhören, bevor es den ersten Toten gibt!“, mahnen nicht nur besorgte Eltern. Denn die Protestbewegung hat viele Facetten: Die Denker und Grübler, die sich Abend für Abend in irgendeiner Küche treffen und mit dem Filzstift Flugblatttexte entwerfen. Die friedlichen Protestler, die Polizisten allenfalls durch Trillerpfeifen und Dauertrommeln belästigen.

Aber auch Vierzehnjährige, die bei Großdemos Pflastersteine schleudern, aufgepeitscht durch eine Polizei, die hart durchgreift und sich nun ihrerseits Kritik anhören muss: Dass Mädchen an den Haaren zum Polizeiauto geschleift werden. Dass ein Kameramann verprügelt und zu Boden geschlagen wird. Dass 730 Verhaftungen auf einer einzigen Demo wohl etwas übertrieben sind. „Die Studentenproteste haben so ganz nebenher auch eine andere Debatte losgetreten: Erstmals seit Ende der Diktatur diskutiert Chile ernsthaft über Polizeigewalt“, sagt Oliva. „Auch die Regierung fragt sich, ob hier nicht Verhaltensmuster überdauern, die einer Demokratie unangemessen sind – und sei es auch nur aus Sorge, die Bilder prügelnder Polizisten könnten ausländische Investoren abschrecken.“

Vor den Kneipen in Santiagos Studentenviertel Barrio Brasil stehen nun Türsteher mit Schlagstöcken in der Faust. Und die Händler in der Innenstadt lesen jetzt so intensiv Zeitung wie nie. „Wir müssen ja auf dem Laufenden bleiben“, sagt ein Kioskinhaber – wann sollen sie die Geschäfte verrammeln? Wann müssen sie fürchten, dass wieder ein Schaufenster zertrümmert oder ein Supermarkt gestürmt wird? Die Kaufleute müssen wohl noch eine Weile um ihre Umsätze bangen: Die Zusagen der Regierung sind den Schülern nicht genug. Sie haben neue Forderungen formuliert und verkündet, dass sie erst einmal weiterstreiken.

Die Pinguine lassen sich nicht bremsen. Nicht von Schuldirektoren, die Streikführer wie die „Súper chica“ María Jesús aus der Schule zu werfen drohen. Nicht von den Appellen der Regierung, doch bitte zunächst die neuen Gesetzesvorhaben abzuwarten. Und schon gar nicht von den Wasserwerfern und Schlagstöcken der Polizei.