: Von Dallas nach New Orleans
KRISENBEWÄLTIGUNG Früher handelten amerikanische TV-Serien von den Intrigen texanischer Ölgiganten. Heute thematisiert „Treme“ die sozialen Folgen einer Naturkatastrophe
VON DORIS AKRAP
Am 29. April 1986 berichteten die ARD-„Tagesthemen“ zum ersten Mal vom Reaktorunglück in Tschernobyl. Wenige Minuten zuvor war das deutsche Fernsehpublikum ohnehin schon in Schockstarre versetzt worden, weil Bobby Ewing gestorben war – in der US-amerikanischen Erfolgsserie „Dallas“. Selbstverständlich war die Reaktorkatastrophe nicht für den Tod des jüngsten und beliebtesten Sprösslings aus dem fiktiven Imperium Ewing Oil verantwortlich. Und niemand erwartete, dass die Katastrophe von Tschernobyl sich in irgendeiner Art und Weise in „Dallas“ widerspiegelte. „Dallas“ stellte zwar keine heile Welt dar, aber eine Welt, in der die Realität nur eine untergeordnete Rolle spielte.
Ganz anders ist das Verhältnis von Realität und TV-Serie heute: Am 20. April 2010 explodierte die Ölplattform „Deepwater Horizon“, deren auslaufendes Öl seit Wochen an die Küste von Louisiana gespült wird. Doch das amerikanische Fernsehpublikum war zu dieser Zeit noch mit der medialen Verarbeitung einer anderen Katastrophe in derselben Region beschäftigt: Nur neun Tage vorher, am 11. April, lief auf dem amerikanischen Bezahlsender HBO der Auftakt einer neuen TV-Serie, die in New Orleans spielt, und zwar in den Monaten nach dem Hurrikan „Katrina“, der die Stadt 2005 fast vollständig zerstörte.
Abriss oder Wiederaufbau?
„Treme“ heißt die Serie, Schauplatz ist das gleichnamige Viertel Faubourg Treme, das vor allem von Afroamerikanern bewohnt wird und in dem die berühmte Musikerszene von New Orleans lebt und arbeitet. Die Katastrophe hat tiefere Spuren hinterlassen, nicht nur Schimmel an der Decke und Wasserflecken auf Türen. Bei „Treme“ schwimmt zwar nicht das Öl am Strand oder Touristen und Fische bleiben aus, dafür sieht man, was es für eine Stadt bedeutet, wenn Gas und Strom nur hin und wieder funktionieren, wenn eine obdachlos gewordene Stadtbevölkerung den Wiederaufbau allein in die Hände nahmen muss, wenn Bands ihre Musiker und Familien ihre noch lebenden oder toten Angehörigen finden müssen, um die sich Polizei und Justiz nicht kümmern. Es ist nicht die Naturkatastrophe, die im Zentrum der Serie steht, sondern die Katastrophenbewältigung.
Als im August 2005 die Deiche brachen, wurde New Orleans fast vollständig überschwemmt – 1.800 Menschen starben. Vor allem die Viertel der armen, zumeist afroamerikanischen Bevölkerung waren betroffen. Die Bevölkerung wurde evakuiert, und die Bush-Regierung geriet unter großen Druck, den Betroffenen zu helfen; zugleich wurde in Washington offen darüber diskutiert, ob man New Orleans völlig aufgeben sollte, weil durch Klimaveränderungen die Lebensbedingungen dort immer schlechter werden.
Ohnehin waren viele, die es sich leisten konnten, nach Baton Rouge, in die Hauptstadt Louisianas, gezogen. Man entschloss sich, die Bevölkerungsdichte zu verringern, die Gentrifizierung zu fördern, und riss die Projects, eine Art sozialen Wohnungsbau, ab.
All das wird in „Treme“ thematisiert. Während am Anfang noch alles so wirkt, als sei die Serie voller „Saints go marchin’ in“, wird im Laufe der ersten Staffel jedoch klar, dass fast alle an ihrem eigenen Anspruch, ihr Haus, ihre Stadt, ihre Familie wiederaufzubauen, scheitern. Sie scheitern an äußeren Grenzen wie nicht ausbezahlten Versicherungen, hilfloser Politik, krimineller Polizei oder korrupter Justiz oder an den eigenen Grenzen wie Drogen, Depressionen, Korrumpierbarkeit, Hilf- und Mutlosigkeit.
Ähnlich wie in anderen neueren amerikanischen Serien wie „Deadwood“ hat der Produzent David Simon für „Treme“ reale Geschichten verarbeitet, sei es die von Radio-DJ Davis Rogan, der an der Bürgermeisterwahl mit dem Spruch teilnimmt: „A desperate man for desperate times“, des Musikers Elvis Costello, der mit Allen Toussaint die Platte „The River In Riverse“ in New Orleans aufnahm, oder des Bloggers Ashley Morris, der mit seinen auf YouTube geposteten Video-Ansprachen an den Präsidenten George W. Bush berühmt wurde. Unfreiwillig liefert die Serie „Treme“ jede Menge Anschauungsmaterial für die Behauptung, „Deepwater Horizon“ könne Obamas „Katrina“ werden. Denn wenn es jemanden gibt, der für das ganze Desaster in New Orleans verantwortlich gemacht wird, dann ist es „The man“.
20 Jahre nach Dallas und Denver hat sich das Format der TV-Serie in den USA radikal verändert. Gewissenlose Typen wie J. R. Ewing gibt es zwar immer noch, aber sie sind gebrochene Figuren, keine Helden, mit denen man trotz aller Schurkigkeit immer noch Sympathien hegen kann. Wer über die These, neue amerikanische TV-Serien wie „The Sopranos“, „The Wire“ oder „Mad Men“ seien der Roman des 21. Jahrhunderts, nur den Kopf schütteln kann, hat bislang keine gesehen und sollte es schnellstens nachholen. Denn diese Serien sind mit ihren das jeweilige Milieu treffenden Dialogen, ihrer formalen und inhaltlichen Offenheit nicht nur gute Unterhaltung. Ähnlich wie in Simons erfolgreicher Serie „The Wire“ wird in „Treme“ ein städtisches Milieu in den Blick genommen, das ansonsten nur als Opfer oder Freaks gesehen wird: die afroamerikanischen Musiker und die Anhänger der Mardi Gras Indians in New Orleans.
Erzählerische Authentizität
Mit „Treme“ hat Simon das Genre TV-Serie noch einmal erweitert, er hat es auch zu einem journalistischen gemacht. So wie schon bei „The Wire“, arbeitet Simon für „Treme“ mit einem Team aus Journalisten, Autoren und Schauspielerin zusammen, die fast alle aus der Stadt New Orleans kommen: Musiker wie Allen Toussaint, Schauspieler wie Wendell Pierce und Phyllis Montana LeBlanc. LeBlanc ist weder professionelle Schauspielerin noch Autorin, aber sie symbolisiert das, wofür Simon berühmt ist: erzählerische Authentizität. Mit „Treme“ hat Simon das Viertel und seine anhaltenden Probleme wieder ins mediale Rampenlicht geholt, trotz der konkurrierenden Unterwasseraufnahmen von „Top Kill“. Und er hat dafür gesorgt, dass New Orleans beim Fernsehzuschauer ebenso unvergessen bleibt wie Dallas oder Denver.
In Dallas und Denver gab es noch keine Naturkatastrophen, höchstens menschliche: „Das Gewissen ist wie ein Boot oder ein Auto: Wenn du denkst, dass du eins brauchst, miet dir halt eins“, lautete ein Spruch von J. R. Ewing. 20 Jahre später hat sich das TV-Serienformat grundlegend verändert, ja radikalisiert. Es ist wohl nicht allzu prophetisch, zu behaupten, dass es früher oder später TV-Serien geben wird, die sich mit den sozialen Folgen der Ölpest an der Küste Louisianas und Floridas und des Erdbebens von Port-au-Prince beschäftigen werden.