Frankreichs blaue Blume

FLANDERN Zwischen Mitte Juni und Anfang Juli wippen tausende von lavendelfarbenen Blüten auf hohen Halmen: Es blüht der Flachs

  Anreise: Mit dem Zug (TGV von Paris) nach Lille, von dort mit Regionalzügen weiter nach Bergues oder nach Dünkirchen (Dunkerque), von dort mit Bussen nach Hondschoote.

  Übernachtung: Selbstversorger in einer hübschen, großzügig geschnittenen Ferienwohnung in Oost-Cappel, www.gitelinfini.fr oder in Gästezimmern in dem hübschen, alten, völlig ruhig in Feldern gelegenen Bauernhof „Ons Kot“ bei Hondschoote, an dem abends gemeinsam mit den Gastleuten an einer langen Tafel gegessen wird. (auf Französisch nennt sich das Chambre d’hôte und Table d’hôte) www.onskot.com

  Informationen und Fahrradverleih beim Fremdenverkehrsamt: Office de Tourisme du Pays du Lin 5,place du Général de Gaulle, 59122 Hondschoote, Tel. und Fax: 03 28 62 53 00, www.otpaysdulin.fr

  Restauranttipp: Keinesfalls sollte man Flandern verlassen, ohne in einen „Estaminet“ gegangen zu sein. Der ist für einen Flamen das, was für einen Bayern das Wirtshaus ist: Spiegel einer Kultur und Lebensart.

  Einer der schönsten ist der „Kasteelhof“ in Cassel. Er gehört Manuel de Quillacq und Bruno Caron, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die kulinarischen Schätze der Region zu bewahren. Ihre Küche ist erdverbunden: Tarte mit Äpfeln und Speck, Bier-Kaminwurzn, Waterzooie mit Huhn, Rindsrouladen nach mittelalterlichem Rezept, Leberpastete mit Chicorée, säuerlich-süßer Rhabarberkuchen und eine große Auswahl an Bier. Unterhalb Cassels haben die beiden Wirte einen weiteren Bauernhof renoviert, der noch in keinem Reiseführer erscheint. Ein Raum darin wurde mit Möbeln vom Flohmarkt in eine gemütlich-stilvolle Teestube verwandelt. Estaminet D’Kasteelhof, Rue Saint Nicolas 8, 59670 Cassel,Tel. 03 28 40 59 29, Menü: 11–20 Euro

VON MARGARETE MOULIN

Der Wind, der von der Opalküste herweht, frischt auf. Drüben, bei Zuydcoote, freuen sich jetzt die Strandsegler, die in ihren schnittigen Gefährten über den feinkörnigen Sand sausen. 20 Kilometer weiter im Landesinneren spielt der Wind den ungestümen Friseur. Mit Schwung fährt er in das Feld vor uns. Tausende Granny-Smith-grüner Stengel, gekrönt von zartblauen Blüten, verneigen sich vor ihm. Die Brise bürstet und kämmt das Feld, legt es in grün-blaue Wellen. Sie verwurschtelt, glättet und beginnt ihre Kunst von neuem. Eine Augenweide. Arnaud van Robaeys ist ein paar Schritte in sein Feld gestakt und steht nun da wie ein Leuchtturm in der Brandung. Der Landwirt, dessen Großvater schon Flachs anbaute, will uns diese uralte Kulturpflanze näherbringen. „Heute Abend ist das Spektakel vorbei“, sagt er und fährt mit der Hand sacht über die Halme.“ Die Flachsblüte ist der Inbegriff des Ephemeren. Geboren mit der Morgenröte, wirft sie ihre Blätter unter der Wärme der Nachmittagssonne wieder ab, um Platz zu machen für ihre unzähligen Geschwister des nächsten Tages.

Zwei, drei Wochen dauert das blaue Wunder an, und am schönsten erlebt man es mit dem Fahrrad. Auf Teersträßchen, eingefasst von Weißdornhecken, surren unsere Reifen an Flachsfeldern vorbei, die sich mit reifendem Weizen und Hafer abwechseln. Auf fetten Wiesen stehen Kühe, weiß-blauschwarz gefleckt, und fressen sich kolossale Hinterbacken an. Jedes Jahr, sobald die Bauern gesät haben, legt das Tourismusbüro in der Kreisstadt Hondschoote eine Rundtour, die rallye bleue, auf einer neuen Route an. „Denn Flachs braucht zwar keinen Dünger und kaum Pflanzenschutzmittel, aber er kann nur alle sieben Jahre auf demselben Acker wachsen“, erklärt Arnaud. So schlängelt sich die knapp 40 Kilometer lange Radstrecke, die von Juni bis September ausgeschildert ist, in immer anderen Varianten zwischen den Ortschaften hindurch. Diese heißen Quaëdrypre, Rexpoëde, Oost-Cappel oder eben Hondschoote. Ihre Namen erinnern daran, dass der Landstrich zur Grafschaft Flandern gehörte, bevor er im 17. Jahrhundert an die französische Krone ging.

Leinen – die Textilfaser Europas

Die mit braunroten Klinkersteinhäusern gesprenkelte Gegend südlich von Dünkirchen, zwischen Nordseeküste und belgischer Grenze gelegen, ist die französische Wiege des Faserleinens. Bis ins 19. Jahrhundert war der Flachs neben Hanf und Wolle die einzige Textilfaser in Europa. Baumwolle wurde noch nicht importiert. Aus dem wasser- und schmutzabweisenden Material fertigten die Menschen nicht nur Kleidung, Bettwäsche und Säcke, sondern auch Schiffssegel und sogar die Tragflügel der ersten Flugzeuge. Ab 1960 verschwand das Blau immer weiter aus der Landschaft. Synthetik kam in Mode. Doch in den vergangenen Jahren hat sich die Nachfrage nach Leinen verdoppelt. Die natürliche, bei heißem Wetter so angenehme Faser liegt wieder im Trend. Vor allem hängt es aber mit solchen Menschen wie Herrn Li zusammen. Es ist die gewaltige Textilindustrie Chinas, die über 80 Prozent des französischen Flachs aufkauft. In Form von Hosen, Hemden, Jacken, Laken oder Tapeten schickt sie ihn nach Europa zurück. In Frankreich wird kaum noch gesponnen.

Es ist Sonntag, aber Geschäft ist Geschäft. Deswegen geht Arnaud van Robaeys jetzt auch mit Herrn Li in seine Lagerhalle. Zu Ballen verpackt oder zu Knoten geschlungen, warten Tonnen von silbrig-grauem, seidig gekämmtem Flachs des vergangenen Jahres darauf, gekauft und gesponnen zu werden. Es sieht hier aus wie im Märchen vom Rumpelstilzchen, in dem die unglückliche Königstochter ein Zimmer voller Flachs zu Gold spinnen soll. Mit Kennerblick zieht der chinesische Händler Probefasern durch die Finger und nickt anerkennend.

Natürlich ernten, brechen und kämmen heute Maschinen den Flachs. Trotzdem ist er ein Produkt geblieben, dessen Qualität von Sonne, Wind und Regen abhängt. Nach der Ernte im August bleiben die Garben bis zu acht Wochen lang auf dem Feld liegen. Beim Verrottungsprozess lösen sich die holzigen Innenteile von der fasrigen Außenschicht. Van Robaeys ist auf das flämische Leinen stolz wie ein burgundischer Winzer auf seine Weinstöcke. „Unser Trumpf ist unser ‚terroir‘“, sagt er. „Unsere Lehmtonböden und das maritime Klima bringen Fasern hervor, die sowohl fein als auch reißfest sind.“ Wie beim Wein gibt es gute und schlechte Jahrgänge. So war 2008 ein hervorragender, dessen Ergebnisse in diesem Sommer in den Modeläden hängen. Aber selbst schlechte Jahrgänge finden Verwendung, zum Beispiel im Auto- und Flugzeugbau und schlagen da noch die Qualitäten von Glasfaser. Aus den Samen wird Öl gepresst. Sogar Bier kann mit den Leinsamen gemacht werden. Wir probieren es im Hofladen von Landwirt Vantorre in Rexpoëde. Dazu reicht er uns Wurst und Fleisch seiner Kühe. „Wir mischen ihrem Futter Leinsamen bei“, erklärt uns Vantorre.

Wir treten weiter in die Pedale, überqueren die belgische Grenze und kommen ins kleine Izenberge. In dem Museumsdorf „Bachten de Kupe“ zeigen historische Geräte, wie schweißtreibend die Arbeiter vor der Industrialisierung dem Flachs seine Bestandteile entreißen mussten. Die „Flämische Mühle“ beispielsweise, die zum Flachsbrechen diente und mit Pedalen angetrieben wurde, erinnert an einen Fitness-Stepper – allerdings ohne Haltegriffe, denn mit den Händen mussten die Arbeiter die Halmbündel unter die sich drehenden Messer halten.

Es ist ein vergnügliches Radeln, schließlich ist die Gegend so flach, als habe der Schöpfer sie mit dem Nudelholz gewalzt. Immer wieder fahren wir an blauen, wogenden Rechtecken vorbei. Am Schönwetterhimmel treiben Wolkenungetüme, wie sie kein niederländischer Meister grandioser malen könnte. Die höchste Erhebung weit und breit ist der 54 Meter hohe Glockenturm von Bergues. Das von einer mittelalterlichen Wehrmauer umgebene Städtchen lieferte die Kulisse für den Kinostreifen „Willkommen bei den Sch’ti!“. Mag sein, dass der Film alle Klischees strapaziert hat. Aber als sich mittags die Stimmen von 50 Glocken zu einem Klangteppich verweben, verstehen wir, warum der Filmemacher das Geläut für ein Liebeslied genutzt hat.

Orte ohne den üblichen touristischen Lack

Unser abschließender Einkehrschwung führt in Killem ins Café „Au bon coin“, „Zum Guten Eck“, gegenüber von van Robaeys Fabrik. Ein Aufkleber an der Tür zeichnet es als „Café Rando“ aus, das heißt: Wie in einem Biergarten darf man seine Brotzeit mitbringen, aber muss etwas zu Trinken bestellen. Es ist ein Ort bar allen touristischen Lacks. Die Sonntagsmesse ist vorbei, und nun werfen die Einheimischen knallend die Karten auf den Tisch. Zwei Alte am Tresen rücken für uns die Ellbogen bereitwillig zur Seite. Miteinander haben sie eben noch ein altmodisches Flämisch gesprochen, jetzt wechseln sie in ein rollendes Französisch: „Aus Deutschland seid ihr? Von euch kommt aber selten jemanden zu uns!“ Es dauert keine zwei Minuten, schon ist das Thema Weltkrieg auf dem Tresen. Wohlgemerkt vom Ersten, dem Großen Krieg, ist die Rede. Obwohl fast 100 Jahre her, ist er im kollektiven Gedächtnis der Menschen lebendig geblieben. Aber keine Feindseligkeit liegt in der Stimme der Alten. Eher Freude, dass wir den Weg ins Pays du Lin, ins Land des Leinens, gefunden haben. „Der ist für uns, was für die Provence der Lavendel ist!“ Und dann schiebt der Barmann einen giftgrünen Sirop à la menthe über den Tresen. „Der geht aufs Haus!“

Den alten Webstuhl aus einer Fabrik gerettet

Am Ende unserer Reise finden wir doch noch eine Weberin. Nicht auf dem platten Land, sondern in der Hauptstadt des Departements. In Lille, in der Rue de l’Hôpital Militaire Nr. 10, hat Valérie Maniglier hinter einer unscheinbaren blassblauen Tür ihr Atelier. Jeder, der sie nicht allzu lange stört, darf zu ihr hereinsehen. In dem niedrigen Raum schiebt und drückt sie klappernd die Tasten und Pedale ihres Arbeitsgeräts wie eine energische Organistin, lässt das Schiffchen hin- und hersausen. „Den Webstuhl hab’ ich aus einer Fabrik gerettet, die abgerissen wurde“, erzählt sie. An ihm webt sie prachtvolle schwere Stoffe. Wir staunen über die Spulen mit Fäden aller Couleur, die in einem komplizierten System auf der einen Seite in den Webstuhl hineinlaufen, um auf der anderen Seite sich zu einem bunten Teppich zusammenzuschließen. Vor nicht allzu langer Zeit waren das Lila, das Rot, das Gelb lauter blaue Blumen auf Granny-Smith-grünen Stengeln.