: Die heimliche Sechs
Warum Michael Ballacks Rückzug auf die Position des zweiten Spieleröffners das deutsche Spiel voranbringen kann – und Klinsmanns Angriffsfußball nicht relativiert. Der Haken ist ein anderer
VON ULRICH FUCHS
Die wichtigste Frage ist geklärt: Ja, Michael Ballack steht heute gegen Polen im deutschen Team. Aber wird auf Sicht und was die Erfolgsaussichten der Deutschen angeht, eine andere Frage nicht noch entscheidender? Welche Rolle spielt dieser Ballack eigentlich in der Formation von Jürgen Klinsmann?
Gemeint ist nicht die Rolle im gruppendynamischen Prozess der DFB-Auswahl. Jedenfalls nicht bezogen auf die Gerüchte über angebliche Machtkämpfe zwischen dem Bundestrainer und seinem Topspieler, die rund um Ballacks Nichtnominierung im Eröffnungsspiel kolportiert wurden. Die spielen ab heute nämlich keine Rolle mehr.
Oder höchstens noch, was die mannschaftstaktische Orientierung der deutschen Elf angeht. Denn auch da wurden im Vorfeld der WM Differenzen zwischen Klinsmann und Ballack offenbar. „So nicht“, hatte der Kapitän nach dem Japan-Test (2:2) eine zu offensive Ausrichtung moniert –und damit überraschend prompt Gehör beim Bundestrainer gefunden. Statt als zentraler Spieler hinter zwei Spitzen sollte Ballack im letzten Vorbereitungsspiel gegen Kolumbien weiter zurückgezogen agieren, zumindest bei gegnerischem Ballbesitz. Ballack vor der Innenverteidigung auf der Position einer, nennen wir es: „heimlichen Sechs“ – würde die taktische Korrektur mit dieser Konsequenz betrieben, dann könnte sie im deutschen Spiel tatsächlich beträchtliche Wirkung entwickeln.
Kaum eine Fußballdiskussion kommt heutzutage ja ohne den Hinweis auf die zentrale Bedeutung der „Sechs“ im modernen Spiel aus. Mit gutem Grund. Schließlich ist es dringend angeraten, in einem Spiel, bei dem die Eröffnung der Offensive mittlerweile schon weit hinten beginnt und der Auftakt der Defensivarbeit weit vorne, an der zentralen Schnittstelle zwischen beiden Zonen mit strategischer Kompetenz zu arbeiten. Sprich: mit einem Spieler, der, wie man sagt, in der Lage ist, das Spiel zu lesen.
Nur mit diesem sicheren Gefühl für entstehende Gefahren und Chancen schafft es ein Sechser nämlich, neben dem Beitrag, den er selber bei der Defensivarbeit leistet, auch die Kollegen so mitzuorganisieren, dass der gegnerische Spielfluss schon im Mittelfeld gestört respektive unterbrochen werden kann. Wie überragende Sechser sich auch auf die umgekehrte Kunst verstehen: den Ball durch jene Lücken in die gefährliche Zone des Gegners zu befördern, die die verteidigende Mannschaft durch die gute Organisation ihrer Defensivarbeit verstellen will.
Weil seine Aufgaben damit titanisch sind, besetzen viele Trainer die Position mit zwei Spielern, die dann nebeneinander vor der Innenverteidigung agieren. Ballack neben Frings – das könnte sich auch aus ganz spezifischen Gründen empfehlen. Frings hat eher Defizite, was seine strategische Kompetenz angeht, andererseits aber enorme Stärken, wenn er sich mit seiner Dynamik ins Offensivspiel einschalten kann. Seine Freiheit, sie auszuspielen, wäre ungleich größer, würde die Defensivabsicherung im Wechselspiel mit Ballack geleistet werden.
Ganz abgesehen davon, dass gegen Costa Rica (wie schon seit Monaten immer wieder) nicht nur in der Defensivkette gepatzt wurde, sondern die gegnerischen Anspieler davor manchmal beängstigend unbedrängt nach Lücken für ihre Zuspiele auf die Stürmer fahnden konnten. Hier könnte Ballack als zusätzlicher Lückenstopfer und Organisator wichtige Hilfen geben.
Zumal der Kapitän selber gar keinen Zweifel daran lässt, dass ihm eine Position weiter hinten auch persönlich besser liegt als die direkt hinter den Spitzen. Ballack weiß nämlich genau, dass die Zehner dort vorne im modernen Spiel meist mit enger Anbindung an die Angreifer agieren und Anspiele von hinten deshalb oft mit dem Rücken zum Tor verarbeiten müssen, bevor sie die Bälle durch die letzte Lücke stecken oder selber den Abschluss suchen können. Für all das scheint Bastian Schweinsteiger weit eher prädestiniert als sein Kapitän, der das Spiel am liebsten vor sich hat.
Einen Haken an der Sache gibt es nicht? Doch, natürlich. Sonst würden Klinsmann und Löw ja nicht zögern. Die Anlaufwege, um Ballacks eminente Torgefahr ins Spiel zu bringen, sind auf der heimlichen Sechs beträchtlich länger. Einerseits. Andererseits: Wer von der Sechs ganz nach vorne stößt, wird selten von einem der stärksten gegnerischen Defensiven in Empfang genommen und kann damit oft effizienter sein als die Kollegen der Offensivabteilung.
Bleibt die Gretchenfrage: Würde ein Ballack auf der Sechs Klinsmanns Masterplan vom deutschen Vorwärtsfußball unterlaufen? Gegenfrage: Wer erinnert sich an Leverkusens Traumfußball, der 2002 ins Finale der Champions League führte? Mit Ballack im hinteren Mittelfeld und Bastürk als Schweinsteiger hinter den Spitzen – und mit jenem begeisternden, undeutschem Kombinationsfußball, von dem Klinsmann träumt.
ULRICH FUCHS ist Mitglied des WM-Analyseteams der taz und Autor von „Der Ball ist rund, damit das Spiel die Richtung ändern kann“. Der Klassiker leitete die Verfachlichung des Fußballdiskurses in Deutschland ein