Der Slawe hatte Recht
: Versumpft

Sie klang nach Lokalanästhesie

Sie kam vor genau sechs Wochen nach Berlin und war sofort angetan von der Stadt. Ihr einziges Manko war, dass sie anfänglich die Wohnung nicht verließ und man sie immer wieder leicht schubsen musste, um sie über die Türschwelle zu bugsieren. Doch von Tag zu Tag schlug sie sich besser, gewöhnte sich an die Umgebung und wagte sich schließlich selbst alleine aus dem Haus.

„In meinem Zimmer rußt der Ofen, in meinem Herzen ruhst nur du.“ So oder so ähnlich versuchte ich sie letztens wieder einmal rauszulocken. Ein wenig frisches Kino schnuppern oder in die Luft gehen, irgendwas Unauffälliges. Sie rülpste ins Telefon, ihre Art zu sprechen klang nach Lokalanästhesie, zwar benebelt, aber auch prophylaktisch besorgt. Zum wiederholten Mal war der Nachmittag also nicht der geeignete Zeitpunkt, um sich mit ihr zu verabreden, denn im Golden Gate war immer noch Rambazamba, und sie schien nicht willens, darauf zu verzichten. Sie hatte auch gerade ihren Haarreifen verloren etc.

Eine Woche später versuche ich es gegen 22 Uhr. Nun befand sie sich auf irgendeiner Galerieeröffnung, und wieder schien ihr der Lokalanästhesist auf Schritt und Tritt zu folgen, Gläser klirrten, Boxen dröhnten, und eine Stimme im Hintergrund bat inständigst um die Herausgabe einer sehr dringend benötigten Brille.

Vor kurzem flog sie aus ihrer Pension. Gestern haben die Eltern ihr den Geldhahn zugedreht. Es ist wohl kein Zufall, dass sich der Name „Berlin“ angeblich aus dem Slawischen für „Sumpf“ ableitet. Denn versumpfen kann man hier schnell, auf die eine oder andere Weise. Ob man auf Galerieeröffnungen versumpft oder auf der Parkbank vor dem Supermarkt, macht dabei keinen großen Unterschied. Am spaßigsten versumpft man aber immer noch in den Clubs. Das hatte sie dann doch recht schnell verstanden. JURI STERNBURG